“Drohenden »Gefahr der Ver-Ostung« der BRD” – “Eine von westdeutschen Beamten geführte »Kolonisten-Bewegung« zu begegnen”
Ist Ostdeutschland nur eine negative Projektionsfläche des Westens? Wie könnte eine postkolonialistische Analyse aussehen? Die Diskussion über Ostdeutschland wird oft von westlichen Eliten-Perspektiven dominiert, die den Osten als Ort der Hässlichkeit, Dummheit und Faulheit darstellen. Dieser herrschende Diskurs konstruiert eine Fremdartigkeit ausschließlich aus westdeutscher Sicht und verstärkt Vorurteile wie Rassismus, Rechtsextremismus und Armut. Aber die steilsten Thesen kommen erst noch.
“Westliches Führungspersonal, um dem Osten zu zeigen, wie Demokratie, Wirtschaft und Wissenschaft funktionieren”
>>Staatsfunk “Deutschlandradio” <<
“Ebenfalls seit dem Beitritt der DDR zur BRD hält sich hartnäckig die These, dass es sich beim Osten um eine „Kolonie“ handelt. … Gegen die These spricht, dass sich die Ostdeutschen nach der Wende auch für ein anderes Wiedervereinigungsmodell hätten entscheiden können, sie aber mehrheitlich den schnellen Beitritt gewählt haben. Der Journalist Matthias Bertsch erklärte dazu im Deutschlandfunk:
„Oschmann verschweigt zum Beispiel, dass die DDR-Bürger zu dieser Entmündigung zumindest indirekt beigetragen haben. Während sich der Kern der friedlichen Revolutionäre eine gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gewünscht hätte, wollte die Mehrheit möglichst schnell den Westen. Mit Freiheit und D-Mark kam allerdings auch westliches Führungspersonal, um dem Osten zu zeigen, wie Demokratie, Wirtschaft und Wissenschaft funktionieren.”
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“Wollte die Mehrheit möglichst schnell den Westen” – Hat dazu wirklich ein verbindlicher Volksentscheid stattgefunden?
Erst der “Kolonial-These” widersprechen, um sie im anschließend dann doch zu bestätigen. Diese Logik muss niemand verstehen. Es wäre wohl grundsätzlich wichtig zu erkennen, dass die Debatte rum um “Ost-Deutschland” tatsächlich eine Erfindung des Westens ist. Je weiter die Wiedervereinigung zurück liegt, desto mehr entwickeln sich diese beiden Hälften auseinander und um so steilere Thesen werden aufgestellt. Darin wird behauptet: “die Mehrheit möglichst schnell den Westen (beitreten)” – Woher diese Erkenntnis stammt? – Es muss wohl ein Geheimnis bleiben. Ein verbindlicher Volksentscheid hat hierzu niemals stattgefunden. Diese Form des widersprüchlichen Denkmuster setzt sich auch an anderer Stelle bei ganz anderen Protagonisten fort.
“Drohenden »Gefahr der Ver-Ostung« der BRD” – “Eine von westdeutschen Beamten geführte »Kolonisten-Bewegung« zu begegnen”
>>Der Osten – eine westdeutsche Erfindung von Dirk Oschmann (Buch) <<
“Um den Kontrast sofort anschaulich zu machen, zitiere ich zunächst den Juristen und Publizisten Arnulf Baring, der 1991 in einem Gespräch mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler die Ostdeutschen so beschrieb:
»Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. […] viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.«
Offenbar für Aussagen wie diese hat Baring 2004 den Europäischen Kulturpreis für Politik und 2011 das Große Bundesverdienstkreuz erhalten. Der drohenden »Gefahr der Ver-Ostung« der BRD sei nur, so wiederum lässt Siedler sich vernehmen, durch eine von westdeutschen Beamten geführte »Kolonisten-Bewegung« zu begegnen:
»Im Grunde müßte eine neue Ost-Siedlung stattfinden.«
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“Kolonisten-Bewegung” – “Im Grunde müßte eine neue Ost-Siedlung stattfinden”
Offensichtlich war das Ziel dieses Verhaltens, die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland zu vertiefen und den Osten als minderwertig darzustellen. Um diese einseitige Darstellung zu verstärken, wurden die Vorurteile gegenüber dem Osten weiter geschürt.
“Es handelt sich wirklich um eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation”
>>Der Osten – eine westdeutsche Erfindung von Dirk Oschmann (Buch) <<
“Und weiter heißt es in dieser neokolonialen Handlungsanweisung, die inzwischen erfolgreich in die konkrete Realität unserer Gegenwart verwandelt worden ist:
»Es handelt sich wirklich um eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation.«
Hier schlägt auch Siedlers ungehemmte Bewunderung für das Dritte Reich durch, das ihm zufolge ja
»ein außerordentlich moderner Staat [war], in vielerlei Hinsicht der modernste Staat Europas, wenn man das außermoralisch nimmt«.
Genau: außermoralisch. Dazu passt seine Behauptung,
»daß man nach 1945 im Westen nur Hitler und seine Herrschaftsinstrumente, die Spitzen der Partei und der SS beiseite räumen mußte, und hinter all den Zerstörungen des Krieges kam eine wesentlich intakte Gesellschaft zum Vorschein«.
Wirklich großartig, so etwas kann man sich nicht ausdenken, aber man kann es offiziell und öffentlich belohnen: Siedler hat schon 1995 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und 2002 den Deutschen Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung bekommen. Man sieht daran auch, wes Geistes Kind der Staat bis heute ist, der solchen Leuten höchste Anerkennung widerfahren lässt.”
“Wes Geistes Kind der Staat bis heute ist, der solchen Leuten höchste Anerkennung widerfahren lässt”
Diese Aussagen stehen für sich selbst und ein ostdeutscher Normalbürger würde vermutlich bei solchen Vergleichen vor Gericht landen. Aber auch die Geschichte der Treuhand fügt sich hier nahtlos ein.
“So übernahm die Treuhand am 1. Juli 1990 mehr als 7800 Einzelbetriebe mit vier Millionen Beschäftigten”
>>Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert von Ulrich Herbert (Buch) <<
“So übernahm die Treuhand am 1. Juli 1990 mehr als 7800 Einzelbetriebe mit vier Millionen Beschäftigten. Ihr wurden zudem Grundflächen übereignet, die insgesamt etwa die Hälfte des Territoriums der DDR ausmachten. Die Treuhand sollte nun die Betriebe vorrangig privatisieren, gegebenenfalls bei der notwendigen Sanierung helfen und, sollten sich einzelne Unternehmen dennoch als nicht marktfähig erweisen, zur Not auch stilllegen. Ursprünglich hatte die Treuhand mit einem enormen Privatisierungsgewinn gerechnet – «der ganze Salat ist 600 Milliarden wert», hatte Rohwedder im Herbst 1990 geschätzt.”
“Ursprünglich hatte die Treuhand mit einem enormen Privatisierungsgewinn gerechnet”
Die Geschichtserzählung der Treuhand setzt für gewöhnlich erst mit der Wiedervereinigung ein, die Grundlagen werden meist eher ausgeklammert.
“Der Forschungsbeirat konnte dabei auf Erfahrungen aus der Hitlerzeit zurückgreifen”
“Der Forschungsbeirat konnte dabei auf Erfahrungen aus der Hitlerzeit zurückgreifen. Im März 1938 war Österreich annektiert worden. Und ab September 1939 begann die Zerstückelung Polens und die Annexion seiner westlichen Provinzen. … Zu den etablierten Maßnahmen gehörte immer eine Währungsunion. Dabei wurde die Währung des Gebiets, das übernommen werden sollte, kurz vor ihrer Liquidation noch einmal künstlich aufgewertet, “um das annektierte Territorium schlagartig von seinen ökonomischen Außenbeziehungen abzutrennen und seine Kapital- und Warenmärkte für einen radikalen Durchdringungsprozess seitens der Unternehmen der Annexionsmacht zu öffnen”.
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“Währung des Gebiets, das übernommen werden sollte, kurz vor ihrer Liquidation noch einmal künstlich aufgewertet”
Bei der Einführung der West-Mark in Ostdeutschland zeigten sich ähnliche Folgen. Eine drastische Umstellung war unvermeidlich – plötzlich befand sich Ostdeutschland nach jahrzehntelanger sozialistischer Planwirtschaft wieder im Kapitalismus. Die Treuhand konnte somit ihre Aufgabe erfüllen. Interessanterweise gab es bereits etwa 50 Jahre vor der Wiedervereinigung eine “Haupttreuhandstelle Ost“.
“Haupttreuhandstelle Ost” – “Sie sollte die konfiszierten polnischen Betriebe verwalten, verwerten und an Deutsche übertragen”
>>Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen von Ulrike Herrmann (Buch) <<
“In den letzten Monaten des Jahres 1940 tat Erhard einen weiteren Großkunden auf – die »Haupttreuhandstelle Ost«, die im annektierten Polen tätig war. Mehrfach bereiste Erhard die besetzten Gebiete und sprach dort mit den »verschiedensten und maßgebendsten Stellen«, wie er im Oktober 1941 in einem Brief an den Nürnberger NS-Bürgermeister Eickemeyer herausstrich. Erhard kannte also das Grauen, das sich in Polen abspielte. Die polnische Elite war bereits im Herbst 1939 ermordet worden, um jeden Widerstand zu brechen: 20 000 Politiker, Priester, Professoren, Lehrer und Adlige wurden als Geiseln erschossen oder bestialisch niedergemetzelt. Diesen Massenmord umschrieb Erhard später in einem Gutachten euphemistisch als »Evakuierung der sogenannten polnischen Intelligenz«. … Allein bis Mai 1941 wurden 320 000 Polen aus dem Warthegau und aus Westpreußen in Güterzüge gepfercht und in den Osten Polens abtransportiert, wo es für sie weder Nahrung noch Unterkünfte gab. Gleichzeitig wurden 160 000 Juden in das Ghetto von Lodz gezwängt und später ermordet. Auf seinen Reisen ist Erhard nicht entgangen, wie ausgemergelt und krank die Polen waren. 1941 verlangte er vom IWF eine einjährige Gehaltsfortzahlung, falls er krank würde, denn er habe »in polnischen Quartieren schlafen oder in Wartesälen zwischen der polnischen Zivilbevölkerung übernachten« müssen, wodurch »ein Schutz vor Infektionskrankheiten nicht gewährleistet« gewesen sei. Erhards neuer Großkunde, die »Haupttreuhandstelle Ost«, war Teil dieser brutalen Gewaltherrschaft: Sie sollte die konfiszierten polnischen Betriebe verwalten, verwerten und an Deutsche übertragen.”
“Die polnische Elite war bereits im Herbst 1939 ermordet worden, um jeden Widerstand zu brechen”
Jegliche Vergleiche rund um die NS-Zeit sind heutzutage faktisch verboten, aber bei genauer Betrachtung tun sich bemerkenswerte Dinge zum Nachdenken auf.