Unvollendete Werke in der Kunstgeschichte: Warum der Tod nur eine Zumutung ist

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Es ist nicht hinnehmbar, dass Robert Musil sein Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ niemals abschloss. Ebenso wenig ist es akzeptabel, dass David Bowie lediglich fünf Demos für sein letztes Album aufnahm und Stanley Kubrick nie die Gelegenheit erhielt, Napoleon vor der Kamera zu inszenieren. Wir verlangen nach Beethovens zehnter Sinfonie. Wir möchten im obersten Stockwerk des Illinois-Hochhauses von Frank Lloyd Wright einen Kaffee genießen und auf Chicago blicken.

An absichtlichen Fragmenten sind wir nicht interessiert. Ja, wir sind uns bewusst: Die romantische Dichtart befindet sich in einem ständigen Prozess und kann niemals vollständig sein. Novalis, Schlegel, Tieck: Ihr wartet auf Transzendenz. Da ihr Gott nicht abbilden könnt, sollen wir ihn in eurem Ungeschriebenen erahnen. Ihr Romantiker! Wir bleiben der Realität verhaftet. Wir präsentieren das unabsichtliche Fragment und zelebrieren es. Wir feiern die Gescheiterten. Wir feiern die Größenwahnsinnigen. Wir feiern die, die gescheitert sind. Wir feiern die, denen ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Wir feiern die Kranken. Wir feiern die zu früh Verstorbenen und ihre Werke. Kleist, Shelley, Schubert, Runge, Marc, Monroe, Fassbinder, Herrndorf, Hadid und der gesamte verdammte Klub 27.

Wir wollen wissen, warum das so ist. Warum wurde dieser Text, dieses Album, dieses Gebäude, diese Sinfonie, dieser Film, dieses Gemälde oder diese Skulptur nichts? Warum endete eine Geschichte, die oft so vielversprechend begann, manchmal abrupt und manchmal erst nach jahrelangem, bitterem Ringen? Uns interessiert der Kampf. Das Hoffen und Bangen. Uns faszinieren die erstaunlichen Zufälle, die notwendig sind, damit am Ende doch etwas entsteht, das eigentlich äußerst unwahrscheinlich ist und oft bereits auf halbem Weg liegen bleibt: ein Kunstwerk. Uns interessieren die hochfliegenden Pläne. Die Träume, die zerplatzen. Die Menschen, die sie träumten – und unsanft erwachen mussten. Uns interessiert der Widerspruch zur Realität. Man könnte meinen, wir seien nicht ganz richtig. Wir spinnen vielleicht. Wir sind fasziniert von dem, was verworfen wurde; von dem Unvollständigen; vom Unbearbeiteten und dem Rest.

Das ist nicht ganz korrekt. Es bedarf einer Präzisierung: Zum ersten Mal übt Abfall in der Kunstgeschichte eine Faszination aus, wenn er von einem Gott stammt. Der Überirdische wird 1475 geboren und trägt den Namen Michelangelo. Schon zu seinen Lebzeiten wird er von seinen Bewunderern als „der Göttliche“ bezeichnet. Kein anderer Einzelkünstler hinterließ mehr Torsi; sie wurden nicht wie üblich als unvollkommen abgelehnt und entsorgt, sondern wie Reliquien aufbewahrt und verehrt. Die Grundlage für seine Göttlichkeit liegt in Michelangelos unzeitgemäß modern anmutendem Charakter – wie wir ihn heute bei Künstlern schätzen: rastlos, manisch, perfektionistisch und aufopfernd. Zuerst kommt die Kunst, dann das Leben. Plötzlichen Eingebungen folgt Michelangelo sofort nach.

Er schläft in seinen Stiefeln ein. Bei seinem Tod 1564 ziehen Dutzende Jünger an seinem Leichnam vorbei – alle in derselben Soutane gekleidet wie ihr Meister. Hier arbeitete kein anonymes Kollektiv mehr wie im Mittelalter; hier schuf ein einzigartiges Individuum – nicht zu Ehren Gottes, sondern zur Feier der Menschheit. Unterschrieben und besiegelt: Michelangelo, Superstar. Im Glanz einer solchen Aura beginnen Fragmente zu strahlen. Von nun an konnte es geschehen, dass auch das Unvollkommene als vollkommen angesehen wurde. Von nun an existierte eine Figur – das Genie –, deren Name erst in der Aufklärung geprägt wurde und seit der Romantik große Popularität genießt. Poeta alter deus (Shaftesbury)! Ein Original, dessen in Kunst übersetzte Regeln natürlich sind und deshalb absolut gelten (Kant)! Prometheus (Goethe)! Flackernd, intuitiv, grenzwahnsinnig und vor allem leidend sollte sein Leben kurz und exzessiv sein (damals ausschließlich männlich konnotiert). Genies sind Unvollendete. Moment – ein Einschub zum Einschub in Klammern: In der Geschichte erfährt man oft mehr über Männer und ihre Probleme als über Frauen. Ist es tatsächlich so, dass Männer seltener vollenden als Frauen?

Sind Männer flatterhafter? Und gleichzeitig strotzen sie vor Schöpferkraft und sind kaum noch fähig zu gehen – you name it. Genius stand bei den Römern nicht zufällig für die Zeugungskraft des Mannes; weibliche Genies waren lange Zeit ein Oxymoron. Sind Frauen in Wirklichkeit also einfach fleißiger, fokussierter und strukturierter? Wirklich jetzt? Sicher ist jedoch: Männer genossen auch in der Kunst Privilegien, die Frauen sich erst sehr spät erkämpfen mussten; dies erklärt die geringe Anzahl bekannter Vertreterinnen in Musik, Literatur, Film, Architektur und Malerei über die Jahrhunderte hinweg. Zweifelhaft bleibt jedoch jede Form von Psycho-Gendering – etwa die Annahme, dass Männer von Natur aus eher zu Großprojekten neigen als Frauen. Wahrscheinlich ist jedoch: Macht verleitet geschlechtsunabhängig zur Selbstüberschätzung und fördert damit das Scheitern. Aber Moment noch einmal – ihr Genies! Genie? Da war doch etwas! War nicht das Konzept des Genies ebenso wie das des Autors eigentlich tot oder zumindest spätestens in der Postmoderne als absurd obsolet angesehen? Tatsache ist: Heute sind wir süchtiger denn je nach Künstlergöttern (und -göttinnen). Sie rechtfertigen die größten Jahrhundert-Ausstellungen mit sämtlichen Studien, Entwürfen und Skizzen; den umfassendsten Gesamtausgaben mit allen gestrichenen und unfertigen Passagen; den kiloschweren Prachtbänden mit bislang unbekanntem Material; dem CD-Jewel-Case mit noch mehr nie gehörten Bootlegs und Demos; sowie der DVD-Edition mit allen jemals gestrichenen Szenen. Wenn jedoch die auffällige Häufung unvollendeter Großprojekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – sprich: Musil, Proust, Sander, Schönberg und Gaudí – etwas über den damaligen Zeitgeist offenbart – nämlich den Wunsch nach einer letzten Bilanz vor dem nahenden Sturm –, was sagt uns dann unsere heutige Sehnsucht nach dem Unvollendeten? Oder soll es tatsächlich so sein?

Wir sind perfekt. Wir haben alles erreicht! Und sollte das nicht zutreffen: Wir streben danach perfekt zu sein und alles zu besitzen! Vollkommen ist zugleich unsere Fragmentierung: Wenn Walter Benjamin beim Überqueren der Straße oder beim Bahnfahren einen epochalen Schock durch plötzliche Wahrnehmungsveränderungen erlebte, so stellt dies für uns eine der leichtesten Übungen dar! Am liebsten schauen wir Serien Folge für Folge; wir chatten Nachricht um Nachricht; wir beginnen hier und setzen dort fort; wir montieren: markieren, kopieren einsetzen – fertig! Und weiter geht’s! Wir sind schnell und multitaskingfähig – heute hier mit diesem Thema und morgen dort mit jenem! Wenn schon nicht leibhaftig dann digital im Sekundentakt! Nichts ist uns fremd! Alles haben wir gesehen! Mit jedem sind wir befreundet! Niemals zuvor gab es in der Menschheitsgeschichte mehr Sammler und Archivare als uns! Wir sind keine Nerds sondern Profis! Das ist nicht negativ sondern unser Status!

Doch da immer ein Satz sowie sein Gegenteil wahr ist wollen wir auch die größtmögliche Nähe zu allen Dingen und Personen erreichen! Unabsichtliche Fragmente bergen ein Versprechen in sich; ihre Qualität spielt dabei eine untergeordnete Rolle! Allein ihr unfertiger vorläufiger Charakter lässt erkennen: Hier hat der Künstler noch keinen Schleier der Perfektion über seine Arbeit gelegt! Hier war er ganz bei sich selbst und fühlte sich unbeobachtet! Hier bekommen wir ihn endlich in seiner innersten Essenz zu fassen – direkt und authentisch sowie direkt authentisch! Roh! Hier lassen die sonst so Unnahbaren – Ikonen – ihre Hosen herunterlassen und gewähren uns Einblick in ihre geheimsten Geheimnisse! An genau diesem Punkt starb die Autorin/der Autor; dies war das letzte Wort! Doch so wie der „wahre Künstler“ angeblich zwischen Genie und Wahnsinn balanciert so ist auch die Kehrseite des gescheiterten Kunstwerks alles andere als intim oder innig! Unfreiwillige Fragmente können nicht nur von tragischen Schicksalen zeugen sondern auch von schlichter Überheblichkeit! Mit Schrecken aber auch oft mit wohligem Schauer stehen wir dann vor den gewaltigen Ruinen des Größenwahns – Denkmälern oder Kathedralen –, welche weltliche sowie geistige Größe in Stein oder Stahl übersetzen sollten – sich jedoch in ihren Trümmern als Nachbau des Turms von Babel entpuppen! Anders als beim absichtlichen Fragment der Romantiker liegt das Heil des unabsichtlichen Fragments nicht in einem transzendenten Darüber sondern vielmehr in einem Dahinter! Ein Dahinter das sowohl vom Willen zur totalen Vollständigkeit als auch von der Angst davor zeugt weil es doch ein Ende bedeuten würde!

Daher muss es immer noch ein weiteres Dahinter geben; eine weitere Skizze oder ein weiteres Fragment welches eine neue Facette vermeintlich Bekannten eröffnet! Denn ist nicht die Anzahl an Skizzen Entwürfen Plänen oder Fragmenten potenziell endlos im Vergleich zur Anzahl vollendeter Kunstwerke? Es besteht immer Hoffnung auf Zufallsfunde auf verstaubten Dachböden oder unaufgeräumten Kellern! Doch hinter diesem Wunsch nach Sensation sowie direktem Zugang zu Unnahbarem steckt möglicherweise unser größter Wunsch: Nichts darf enden! Alles soll fortbestehen! Kein Werk darf abgeschlossen werden! Vollendung bedeutet Tod – und Tod ist eine Zumutung! Hiermit sprechen wir entschieden gegen jenes Satzzeichen auf welches alles zwangsläufig zuläuft: den Punkt! Den wollen wir nicht haben! Punkt! Und dennoch befinden wir uns auf der sicheren Seite denn wir wissen: Wo ein Werk endet sowie wo Wirklichkeit endet beginnt unsere Phantasie sowie unser Mythos! Der Möglichkeitsraum gehört dem Unfertigen; das Träumen lassen wir uns nicht nehmen; unsere Träumer nehmen wir uns nicht weg!”