Nichtwähler & Verfolgungsbetreuung – “Wenn man die Ungerechtigkeiten per Verwaltungsakt ein bisschen näher kennt”
Die größte Gruppe der Nichtwähler stellen die Armen dar. Also denken einige über eine Wahlpflicht nach. Mit geringen Sozialleistungen soll die Beschäftigungsquote erhöht werden. Wie sollte das gesellschaftliche Zusammenleben eigentlich aussehen? Handelt es sich hierbei eigentlich um ein Kampf gegen Armut oder eher um ein Krieg gegen arme Menschen? Ein Beispiel sollte aufhorchen lassen.
„Stadt legt Steine gegen Obdachlose unter Brücke“
„Düsseldorf: Stadt legt Steine gegen Obdachlose unter Brücke – Bußgelder für Obdachlose, die in Bushaltestellen schlafen, die geplante Räumung einer Zeltunterkunft … Steine unter der Rheinkniebrücke, die verhindern sollen, dass hier Obdachlose Schutz finden.“
„Bußgelder für Obdachlose – Die in Bushaltestellen schlafen“
Obdachlosen wird also wohl kaum geholfen, sondern sie müssen weichen, weil ihr Anblick offensichtlich stört. Die Konsequenzen dieser augenscheinlich recht einseitigen Armutspolitik stellen keinen schönen Anblick dar. Eine Redezeit im Parlament wird von ihnen vermutlich keiner eingeräumt bekommen. Aber handelt es sich trotzdem um einen Krieg gegen arme Menschen? – Zumindest deutet der Strafkatalog bei Hartz-IV-Beziehern in die selbe Richtung hin.
“Pflichtverletzung” – “Weigert, eine zumutbare Stelle anzunehmen”
“Bei Meldeversäumnissen darf das Jobcenter den Bedürftigen die Leistungen für einen Monat um zehn Prozent kürzen. … Eine Pflichtverletzung liegt beispielsweise dann vor, wenn sich ein Bürgergeld-Bezieher wiederholt weigert, eine zumutbare Stelle anzunehmen. … Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Sozialverbandes, meint: „Solange in der Grundsicherung weiterhin sanktioniert wird und solange die Menschen weiter in Armut gehalten werden, kann nicht ernsthaft von einer echten Reform, sondern bestenfalls von einer Novelle gesprochen werden.“
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“Menschen weiter in Armut gehalten werden”
Ein vergleichbarer Strafkatalog ist bei Beamte keinesfalls vorgesehen. Anträge die gefühlt eine Ewigkeit unbearbeitet herum liegen bleiben für die Behörden folgenlos. Die Ungleichbehandlung ist also regelrecht mit Händen zu greifen. Aber es soll ja um ein viel höheres Ziel gehen: Menschen in Arbeit zu bringen.
„Wenn Arbeitslose einen Job finden ist die Bundesagentur für Arbeit nur selten beteiligt“
„Wenn Arbeitslose einen Job finden, ist die Bundesagentur für Arbeit nur selten beteiligt. … In 74 Prozent der Fälle gelingt die Arbeitssuche aus eigener Kraft. … Seit den Hartz-Gesetzen will die Bundesagentur für Arbeit (BA) „moderner Dienstleister am Arbeitsmarkt“ sein. Arbeitssuchende und offene Stellen will sie effektiv zueinander bringen, wenn nötig durch vorherige Förderung. Doch tatsächlich ist die Behörde nur selten beteiligt, wenn die Jobsuche gelingt.“
„Tatsächlich ist die Behörde nur selten beteiligt wenn die Jobsuche gelingt“
Solche Resultate hat – unabhängig – auch eine ganz andere Studie herausgefunden. Die >>Cambridge-Somerville Youth Study<< war als – mit fast 50 Jahren – als Langzeitstudie ausgelegt. Sogenannte Problemkinder wurden dabei in zwei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe hat Betreuung erhalten und der anderen Referenzgruppe wurde diese Hilfestellung verwehrt. Das wenig überraschende Ergebnis: Die unbetreute Vergleichsgruppe meisterte ihr Leben wesentlich besser, als ihr betreutes Pendant.
Cambridge-Somerville Youth Study: Keine Hilfestellung ist die allerbeste Hilfestellung
Doch solche Studien sind im eher im hinteren Teil des hypothetischen „wissenschaftlichen Giftschrankes“ zu finden: Denn das ganze Hartz-IV-System geht von der genau umgekehrten Prämisse aus. Abseits der akademischen Welt haben sogar langejährige Jobcenter-Mitarbeiter genau die selben Erfahrungen gemacht, was sie im Interview auch so bestätigen.
„Leute nehmen irgendwelche Arbeitsstellen an“
„Welche Entwicklungen?
Die Leute nehmen irgendwelche Arbeitsstellen an, die sie gar nicht gut finden, nur um dem Sanktionsdruck zu entgehen. Das kann zum Beispiel irgendeine Hilfstätigkeit in der Leiharbeit sein. Das führt aber eben nicht zu nachhaltigen Integrationen.
Wieso nicht?
Die Menschen verlassen den Job nach relativ kurzer Zeit wieder. Die machen die Arbeit dann nur für drei Monate oder sogar für eine noch kürzere Zeit.“
„Menschen verlassen den Job nach relativ kurzer Zeit wieder“
Rund um die staatliche Arbeitsvermittlung hat sich ein riesiger Komplex gebildet, welcher bei genauer Betrachtung eigentlich seine Existenzberechtigung kaum rechtfertigen kann. Dieser Form der Verfolgungsbetreuung scheint jedoch völlig Resistenz gegen jede Kürzungspolitik zu sein, auch wenn sich die “Erfolge” kaum messen lassen.
“Verfolgungsbetreuung” – “Wenn man die Ungerechtigkeiten per Verwaltungsakt ein bisschen näher kennt”
>>Rechts gewinnt, weil Links versagt von Roberto J. De Lapuente (Buch) <<
“Die Verfolgungsbetreuung, die Jobcenter in allen Ecken des Landes ihren Kunden – wie sie im Jargon dieser Behörde, die sich voll und ganz als Dienstleister versteht, heißen –, angedeihen lassen, hat eben nicht zu mehr Menschen in Arbeit geführt, hat keine Klienten hinterlassen, die sich bestens aufgehoben fühlen, sondern individuell wie gesellschaftlich traurige Transformationen hervorgebracht. … Wenn man die Ungerechtigkeiten per Verwaltungsakt ein bisschen näher kennt, dann aktiviert das unmittelbar das linke Herz und man ruft aus: Das ist ungerecht! Ohne Umschweife muss man festhalten, dass man es gar nicht anders sagen kann. Hier werden Menschen verheizt und abgespeist, ja um ihre Lebensleistung gebracht – und nebenher noch mit einem schlechten Gewissen ausgestattet. Langzeitarbeitslose sind Opfer, die im gesellschaftlichen Konsens zu Tätern gemacht werden.”
“Verfolgungsbetreuung” – “Hier werden Menschen verheizt und abgespeist, ja um ihre Lebensleistung gebracht”
Trotzdem kann man ja in dieser Logik ein Moment bleiben. Die Löhne und Sozialleistungen müssen also immer weiter sinken, damit die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt. Andernorts findet eine vergleichbare Entwicklung statt.
USA & Mexiko: “Forderten sie Leute wie mich in Chicago auf, mit den Arbeitern in Mexiko zu konkurrieren”
>>Unsere Revolution Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft von Bernie Sanders (Buch) <<
“Nabisco baute die größte Produktionsanlage für Kekse und Kräcker in Mexiko. Dann forderten sie Leute wie mich in Chicago auf, mit den Arbeitern in Mexiko zu konkurrieren, wo der allgemeine Mindestlohn nur 73 Pesos oder 4,19 Dollar am Tag beträgt. Dann sollten wir Lohn- und Leistungskürzungen von sechzig Prozent hinnehmen. (…) Doch trotz dieses Opfers (…) arbeiten inzwischen 600 weniger von uns in Chicago; unsere Arbeit macht jetzt eine neue Belegschaft in Zentralmexiko, eine Belegschaft, die für eine Fabrik angeheuert wurde, die sie mit den Gewinnen gebaut haben, die wir und unsere Familien über Generationen hinweg für Nabisco erarbeitet haben. Ich bin keine Nummer, und auch meine Familie, meine Nachbarn und meine Kollegen sind nicht bloß Nummern.”
“Unsere Arbeit macht jetzt eine neue Belegschaft in Zentralmexiko, eine Belegschaft, die für eine Fabrik angeheuert wurde, die sie mit den Gewinnen gebaut haben”
Es scheint offenbar eine natürliche Entwicklung zu sein. Die Bevölkerungen der Länder USA und Mexiko werden gegeneinander ausgespielt und müssen jeweils um die niedrigsten Löhne und Sozialstandards konkurrieren. Allerdings der Schein trügt. Tatsächlich können die USA eine strikte Einfuhr- und Zollpolitik betreiben, was sie auf anderen Gebiet sehr wohl restriktiv durchsetzen können. Nicht viel anders sieht es hierzulande aus. Es wäre sehr wohl möglich sich gegen Billigimporte mit Zöllen zu wehren, um die einheimische Wirtschaft und die sozialen Standards zu schützen. Nur welchen Einfluss kann das “Prekariat” eigentlich geltend machen?
Repräsentative Demokratie in Erklärungsnot
>>Die Angst der Eliten von Paul Schreyer (Buch) <<
„Im Jahr 2000 wurde gefragt, ob das Rentenniveau gesenkt werden sollte. Nur 43 Prozent der Armen stimmten zu, jedoch 64 Prozent der Reichen. Ergebnis: Das Rentenniveau wurde per Gesetz gesenkt. 2003, während der Diskussion um die Einführung der Hartz-Reformen, wurde gefragt, ob die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt werden solle. Insgesamt gesehen war eine Mehrheit von 54 Prozent der Bevölkerung dafür. Betrachtete man aber die Einkommen getrennt, dann zeigte sich, dass zwar 69 Prozent der Reichen der Kürzung zustimmten, doch nur 44 Prozent der Armen. Gekürzt wurde trotzdem. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der 2012 gestellten Frage, ob die Rente mit 67 rückgängig gemacht werden solle: 65 Prozent der Armen wollten das, aber bloß 33 Prozent der Reichen. Die Regierung folgte wieder dem Mehrheitswunsch der Wohlhabenden. … Als 2007 danach gefragt wurde, ob die Bundeswehr möglichst schnell aus Afghanistan abziehen solle, stimmten 75 Prozent der Armen zu, gegenüber 43 Prozent der Reichen.“
Die Interessen der Armen werden übergangen
Sicherlich mögen die Zahlen nicht mehr aktuell sein, dennoch dürfte sich über die Jahre kaum etwas geändert haben. Die Entwicklung dürfte also bei der nächsten “Hartz-Reform” – oder wie auch immer sie in Zukunft sich nennen mag – so weiter gehen. Arme haben keine Lobby und deren Interessen spielen in der hohen Politik kaum eine Rolle. Deshalb lohnt sich ein Blick in ein Zukunftsland zu werfen.
“Nigeria” – “92 Prozent der Menschen” – “Müssen täglich um ihr Überleben kämpfen”
>>Unsere Wirtschaft ethisch überdenken von Detlef Pietsch (Buch) <<
“In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas mit 190 Millionen Einwohnern, müssen etwa 92 Prozent der Menschen mit diesem wenigen Geld auskommen. Diese Menschen sind in der untersten Stufe der Bedürfnispyramide von Maslow „hängen“ geblieben und müssen täglich um ihr Überleben kämpfen. Für diese Menschen wäre Wohlstand sicher bereits relativ erreicht, wenn sie sich ausreichend ernähren können und sie den täglichen Überlebenskampf nicht mehr ausfechten müssten.”
“Nigeria” – “Für diese Menschen wäre Wohlstand sicher bereits relativ erreicht, wenn sie sich ausreichend ernähren können”
In Nigeria ist diese Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten. Es gibt eine sehr reiche Oberschicht, eine kaum vorhandene Mittelschicht und der Rest der Bevölkerung. Der tägliche Überlebenskampf bestimmt das Leben oder man könnte es auch zynisch ins Hartz-IV-Behördendeutsch übersetzen: Es muss jede zumutbare Stelle angenommen werden.