Lausitzer Geschichte: In der Herrnhuter Brüdergemeine
Es war am vierten Mai. Auf einer Reise im nördlichen Deutschland kam ich nach Christiansfeld. Ich beschloß hier Rasttag zu halten. Eigenthümliche Lebenserscheinungen haben immer ihren Reiz, zumal wenn sie mit dem Schleier des Geheimnißvollen umgeben sind, und das Herrnhuterthum trägt diesen Schleier in vielerlei Hinsicht, wie wenig es sich auch zu verbergen strebt.
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Christiansfeld ist eine der jüngsten und bedeutendsten Niederlassungen, welche die Herrnhuter im Norden Deutschlands begründet haben. Angebaut am Tystruphof im Jahre 1773, nachdem die Gemeine Pilgerruh bei Oldeslohe wegen oppositioneller Schwierigkeiten von Innen und Außen hatte aufgegeben werden müssen, zählt Christiansfeld heutzutage etwa 60 Häuser mit 700 Einwohnern. Es wird von Westen nach Osten durch zwei kleinere Straßen, von Süden nach Norden durch die elegante Hauptstraße durchschnitten, die von Hadersleben nach Bolding führt. Die größere Hälfte des Orts ist die westliche. Hier befinden sich auch die größeren, nämlich die öffentlichen Gebäude: Gemeinsaal, Chor- und Anstaltshäuser. Die Privatgebäude sind fast durchweg einstöckig.
Der Ort trägt ganz das Gepräge, das den Gemeinorten eigenthümlich ist. Sauberkeit und Regelmäßigkeit der Straßen und Häuser, reges geschäftiges Treiben neben tiefer Stille, welche nur hin und wieder das Läuten einer Glocke vom Gemeinsaal oder aus den Chorhäusern unterbricht, städtische Verfeinerung bei ländlicher Prunklosigkeit und religiöse Einfalt inmitten socialer Vervielfältigung findet man in Christiansfeld, wie man sie in andern Kolonien der Herrnhuter wiederfindet.
Den vierten Mai feiern die ledigen Schwestern ihr Chorfest. Diese Gliederung der Gemeine in Chöre je nach Verschiedenheit des Geschlechtes, Standes und Alters ist einer der charakteristischen Grundzüge im Wesen des Herrnhuterthums. Jede Gemeine wird eingetheilt in das Chor der ledigen Brüder und der ledigen Schwestern, der verehelichten Geschwister, der Wittwer und Wittwen, der größeren Knaben und Mädchen und der Kinder. Jedes Chor hat einmal im Jahre sein besonderes Chorfest und fast jedes Chor aus seiner Mitte einen besonderen Chorarbeiter.
Die Chorarbeiter sollen in möglichst vertrautem Umgang mit den Mitgliedern ihres Chores die Herzensgesinnung derselben bearbeiten und die Chorfeste sind dazu bestimmt, daß die Chorgenossen sich immer von Neuem auf ihren gemeinsamen Beruf in ihren besonderen Verhältnissen mit Gott verbinden sollen.
Die Choreinrichtung überhaupt hat den Zweck, daß nicht nur jedem Einzelnen die Pflichten klarer und ununterbrochener vorschweben, die seinem Stand besonders eigen sind, sondern daß auch Bündnisse vertrauter Freundschaft, anständiger Geselligkeit und religiöser Gefühlserwärmung innerhalb der Gesammtheit entstehen, welche das Band gleicher Lebensverhältnisse und Erfahrungen umschließt. Aeußerlich durch ihre Tracht unterscheiden sich nur die Chöre weiblichen Geschlechts: an ihrem selten kleidsamen weißen Häubchen tragen die größeren Mädchen ein dunkelrothes, die ledigen Schwestern ein hellrothes, die verheiratheten Frauen ein blaues und die Wittwen ein weißes Haubenband.
Die Chorprinzipien sind schon zu Anfang des Herrnhuterthums vorhanden gewesen; sie werden aus der Bibel hergeleitet. Die Einrichtung der Chöre aber mit ihren Chorhäusern ist etwas allmälig Gewordenes, mit ihren Chorfesten etwas willkürlich Gemachtes. Sie ging vorzugsweise aus dem Bestreben hervor, die Geschlechter gesondert zu halten, und entwickelte sich ursprünglich aus den sogenannten Banden, kleinen Gesellschaften von Leuten einerlei Geschlechts, welche sich wechselseitig ermahnten, ermunterten und mit einander beteten. Das Chor der ledigen Brüder und das der ledigen Schwestern sind vielleicht die frühesten Chöre. Als die mährischen Flüchtlinge sich zuerst unter dem Grafen Zinzendorf sammelten und 1722 am Hutberg ansiedelten, wußte man noch nichts von ledigen Brüdern und Schwestern.
Im Jahr 1728 zogen „die jungen Bursche um Verdachtes, bösen Scheines und unnöthiger Gedanken willen aus den Familienhäusern weg, in denen ledige Frauenzimmer wohnten.“ Noch im selben Jahre wurde der Umgang der Geschlechter förmlich verboten. Eine Wollspinnerin aus Mähren, siebzehn Jahre alt, die in der folgenden Zeit noch Gräfin Zinzendorf werden sollte, schloß am 4. Mai 1730 mit siebzehn ihr gleichgesinnten Jungfrauen den Bund, daß sie niemals einem Heirathsantrage Gehör geben wollten, welcher auf eine dem Sinne der Welt und des Fleisches, nicht aber den Sitten und Ordnungen einer Gemeine Christi gemäße Art, d. h. direkt und nicht durch Vermittlung der „Aeltesten“ an sie gelangen würde. Ein Bäckergesell von sechzehn Jahren brachte vier Wochen nachher, auch unter den jungen Burschen einen näheren Anschluß zu Stande, dessen Tendenz sich jedoch weniger bestimmt aussprach. Die Stifter beider Verbindungen wurden deren Aelteste. Seit dieser Zeit prägte sich die Chorgliederung mehr und mehr aus, ward allgemeiner und strenger.
Im Jahre 1736 gab es elf verschiedene Chorabtheilungen, und jeder Chorabtheilung wurden in Chorviertelstunden die Chorhomilien gehalten, in welchen das Verdienst der Menschheit Christi für jedes betreffende Chor auseinandergesetzt wurde. Die jungen Bursche, welche zuerst vom Wollekrämpeln und Spinnen für die Tuchfabriken einer benachbarten Stadt sich dürftig ernährt und sodann eigene Professionen angefangen hatten, erhielten, da ihre Zahl sich mehrte, im Jahr 1739 das erste Chorhaus, um darin beaufsichtigt und vor aller Versuchung bewahrt, ihre Professionen auf Rechnung der Gemeine schwunghafter fortzusetzen. Im Jahr 1740 wurde für den Inbegriff aller Chorabtheilungen die Bezeichnung als Brüderunität, für die „jungen Bursche und Jungfern“ der Name der „ledigen Brüder und Schwestern“ eingeführt.
Am 29. August 1741 veranlaßte ein Kandidat der Theologie aus Thüringen, später Zinzendorf’s Schwiegersohn, Reichsfreiherr und Kirchenbischof, mit zwölf Altersgenossen, denen er Unterricht gab in keuscher Bewahrung der Seele und des Leibes, eine „engere Einrichtung der ledigen Brüder.“ In demselben Jahr kamen die Chorfeste auf, welche anfangs von einzelnen Chören an beliebige „Festgelegenheiten“ angeknüpft und in einem Jahre an dem, im andern an jenem Tage gefeiert wurden, bis sie auf der Synode von 1789 ihre endliche Feststellung erhielten.
Christiansfeld hat ein Chorhaus der ledigen Brüder, eins der ledigen Schwestern und eins der Wittwen. Im ersteren wohnen auch die größeren Knaben, im zweiten die größeren Mädchen; die verehelichten Geschwister leben mit ihren Kindern in den Privathäusern. Ich besuchte nur das Brüderhaus. Denn wenn auch im Schwestern- und Wittwenhaus Fremde Zutritt haben, so wird doch am Chorfest ein Besuch als störend nur ungern gesehen, und dann ist auch die Einrichtung und Lebensweise in allen Chorhäusern so ziemlich dieselbe.
Der Hausdiener führte mich zuerst auf den Chorbetsaal, den Speise- und Schlafsaal, sodann in die Werkstätten der Schuhmacher und Schneider, der Tischler, Bäcker und Fleischer, der Gerber und Seifensieder. Diese verschiedenen Gewerbe, wovon die beiden letztgedachten außer dem Chorhause betrieben werden, und die Seifensiederei zur Hälfte der Gemeine Christiansfeld gehört, bilden die „Chordiakonie des Brüderhauses,“ welche Eigenthum der Unität sämmtlicher Brüdergemeinen ist.
Beschäftigt sind in den Gewerben meist nur Junggesellen, die jedoch nicht immer Mitglieder der Gemeine zu sein brauchen. Jeder Einzelne, Meister oder Gesell, erhält von der Diakonie den Lohn für seine Arbeit, deren Gewinn oder Verlust der Diakonie zufällt, und vom Arbeitslohn hat er seinen persönlichen Unterhalt zu bestreiten, wenn er sonst nicht von Renten zu leben vermag. An der Spitze der ganzen Genossenschaft steht ein „Vorsteher,“ der die Verwaltung und Kontrole des äußeren Haushalts, und ein „Pfleger,“ welcher die Leitung des inneren Chorlebens hat.
Sämmtliche Chor- und Gemeinediakonieen der Herrnhuter sind durch den Grundsatz: „keine derselben jemals fallen zu lassen,“ in einen gegenseitigen Bürgschafts- und Unterstützungsverband gebracht, in welchem sie ein Ganzes, eine Unität ausmachen, und indem die Unität für die Verpflichtungen der Einzeldiakonieen in letzter Instanz haftet, ist jedes Diakonievermögen nur insofern Eigenthum des betreffenden Gemein- oder Chorverbandes, als derselbe einen Theil der Unität bildet.
Das Leben im Chorhaus ist ein stilles, fast eintöniges. Die Leidenschaften sind zwar nicht außerhalb der Pforten zurückgelassen, aber doch innerhalb derselben sorgfältig eingedämmt und enge umzäunt. Vergnügungen, durch welche sie geweckt oder genährt werden könnten, sind in den Chorordnungen strenge verpönt, und jeder Stubenvorgesetzte hat darüber zu wachen, daß auf seiner Stube den Chorordnungen nicht zuwider gehandelt wird.
Früh um sechs Uhr wird das Tagewerk mit dem Morgensegen eröffnet, bei welchem der Pfleger oder einer der Meister die „Loosung“ nebst „Lehrtext“ verliest; spät um neun Uhr wird es mit dem Abendsegen geschlossen, der im Absingen einiger Liederverse besteht. Beide Chorversammlungen finden auf dem Chorsaal statt, während die gemeinschaftliche Abendversammlung für alle Chöre der Gemeine um sieben Uhr auf dem Gemeinsaal gehalten wird. Jeder Bruder braut sich seinen Frühtrank und seinen Mittagskaffee selbst; er macht sein Bett selbst, denn bei der Revision des Schlafsaales um acht Uhr Vormittags würde der Hausdiener das Versäumte gegen eine Vergütung nachholen, und die Küchenbrüder bereiten das Mittag- und Abendessen für diejenigen Mitglieder des Chores, welche nicht vorziehen, ihre Kost in Familienhäusern zu nehmen.
Im Allgemeinen zeichnen sich die Brüder durch einen gewissen Anstrich von Bildung aus, die zunächst wohl aus dem häufigen Anhören kirchlicher Vorträge, aus dem vielen Lesen guter Bücher erwächst und selbst beim gemeinsten Mann durch eine überraschend reine Aussprache sich kund gibt; eben so scheinen sie aber auch an einer gewissen Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit der Umgangsformen zu leiden, welche nicht minder in der Einrichtung ihres Chorlebens den Entstehungsgrund haben dürfte. Im Verkehr mit edlen Frauen wird das Aeußere des Mannes am ersten abgeschliffen und verfeinert.
Die Chorhäuser sind zugleich Pflanzschulen der Missionäre. Es fehlt nicht an Brüdern, die sich zum Missionsdienst melden. In der Gemeine ist ihnen die Gründung eines eigenen Hausstandes erschwert, der Missionsdienst rettet sie vor wahrscheinlichem Cölibat, und sichert ihnen eine lebenslängliche Versorgung. Die jetzigen Missionäre brauchen nicht mehr mit einem Dukaten Reisegeld auf ihren Posten zu gehen, wie weiland Leonhard Dober, noch wenn sie vom Posten zurückgekehrt sind, sich wie Georg Schmidt vom Holzspalten oder Straßenkehren zu nähren, und Conrad Lange, der auf einer Wanderung von vier Jahren, sein Gepäck auf einem Schiebekarren mit sich führend, durch Deutschland, Polen und Rußland bis an die Grenzen von China vordrang, hat in der Gegenwart Nachfolger so wenig, wie das „Pilgerrad“ überhaupt Mitglieder gefunden.
Das Missionswerk der Herrnhuter ist neben dem Erziehungsfach ein hauptsächliches Feld ihrer Thätigkeit. Unleugbar ist diese Thätigkeit eine verdienstliche. Indem sie christliche Religion und europäische Gesittung dem Wilden zuführen, heben sie ihn aus seinem Naturzustand herauf in den Kreis dessen, was das Christenthum vor dem Heidenthum und die Civilisation vor der Barbarei voraus hat. Ihre Missionäre haben den Buschmann seiner Diebereien, den Fingu seiner Raubzüge, den Grönländer seiner Meuchelmorde entwöhnt, und den verthierten Negersklaven Guiana’s leiten sie an, durch eine größere Treue und Zuverlässigkeit sich eine menschlichere Behandlung zu erwerben, oder sie geben ihm Trost und Erhebung in seinen Leiden.
Auf der Küste von Labrador hat vor 1770, in welchem Jahre eine Herrnhutermission daselbst gegründet wurde, kein Europäer eine Nacht bleiben dürfen. Als der Bischof Michael Langguth 1749 zur Visitation auf St. Thomas war, fragte ihn der Gouverneur ob er auch das Kastell schon gesehen habe, und zeigte ihm vom Fenster aus die Plantage der Brüder. „Die,“ sagte er, „macht unsere Sicherheit auf dieser Insel, und daß ich eine Nacht ruhig außer dem Fort auf meiner Plantage schlafen kann, was ich sonst nicht wagen durfte.“ Und als im Jahr 1765 die farbige Bevölkerung von St. Thomas sich wegen eines Sklavenaufsehers gleichwohl empörte, hat die Drohung der herrnhutischen Missionäre, daß sie jeden Empörer vom Abendmahl ausschließen würden, den Aufstand unterdrückt.
Den Anstoß zum Missionswerk gab eine Reise des Grafen Zinzendorf. Er suchte 1731 am dänischen Hofe „ein Engagement, welches ihn mit guter Art aus dem sächsischen Justizdienst brächte und in Dänemark nicht vinkulirte.“ In Kopenhagen lernte er zwei Grönländer und einen Mohren aus St. Thomas kennen. Ihre Schilderungen trafen ihn, und sein Bericht bei der Rückkehr nach Herrnhut traf die Gemeine vorbereitet.
Denn Zinzendorf hatte schon als fünfzehnjähriger Knabe einen „Specialbund zur Heidenbekehrung“ mit seinem Mitschüler Wattewille geschlossen und die Gemeine hatte schon seit 1728 ihre jungen Bursche „in Medizin, Geographie, Schreiben und Sprachen unterrichten lassen, damit sie dergleichen einst als Sendboten gebrauchen könnten.“ Als der Mohr selbst in Herrnhut erschien und hier die Lage seines Volkes nochmals vorstellte, erklärten sich Mehrere sofort bereit, die Einen nach St. Thomas, die Andern nach Grönland zu gehen. Jene wurden am 21. August 1732, diese am 19. Januar 1733 auf ihre Posten abgefertigt.
Besonders die Mähren wendeten sich dem neuen Berufe zu. In kühnem abenteuerlichen Wagen erprobter als die übrigen Einwohner von Herrnhut, zogen sie aus mit wenig Mitteln nach Nord und Süd und suchten in Tranquebar, auf Ceylon und den Nikobaren, unter Indianern von Nordamerika, Freinegern von Surinam, Kopten von Abyssinien, Ghebern von Persien, Christensklaven von Algier, Negern von Guinea und Kalmücken von Astrachan Raum zu gewinnen für sich selbst wie für ihre Landsleute, die man in Herrnhut nicht länger aufnehmen durfte.
Die Geschichte dieser ersten Missionäre ist reich an heroischer Gesinnung und That. Als sie hörten, daß man in Grönland keine Häuser bauen könnte, sagten sie: „So wollen wir uns in die Erde graben!“ und als sie erfuhren, daß man in Westindien, um mit den Sklaven zu verkehren, die Arbeit derselben theilen müsse, faßten sie den Entschluß, „sich zu Sklaven zu verkaufen.“ Nach Surinam und Berbien mußten in langer Zeit alljährlich Missionäre nachgeschickt werden, die Lücken auszufüllen, welche das Fieber in ihre Reihen riß, und man betrauerte in Europa noch den Verlust der ersten Opfer, als sich schon wieder neue anboten. Johannes Sörensen, von Zinzendorf gefragt: „willst Du morgen nach Grönland gehen?“ antwortet: „Ja, wenn ich ein paar Schuhe bekomme!“ und am folgenden Tage war er auf der Reise.
Georg Weber, von Zinzendorf bei der Einfahrt in den Hafen von St. Thomas darauf vorbereitet, daß sie vielleicht keinen Missionär auf der Insel mehr am Leben fänden, erwiedert: „Nun, so sind wir da!“ Gottlieb Israel scheiterte bei Tortola und rettete sich auf eine Klippe. Während sein Gefährte, der Studiosus Feder, vor seinen Augen vom Meere verschlungen wird, segnet er ihn ruhig zur „Heimfahrt“ ein und während er selbst, ein lahmer Krüppel, jeden Augenblick in Gefahr ist von der Klippe heruntergespült zu werden, singt er wohlgemuth im Tosen der Brandung den Lieblingsvers der ledigen Brüder:
Ihr Mauerzerbrecher, wo sieht man euch?
Die Felsen, die Löcher, die wilden Sträuch’,
Die Inseln der Heiden, die tobenden Wellen
Sind unsre vor Alters bestimmten Stellen.
Gegenwärtig, wo das Missionswerk mit mehr Geldmitteln und weniger Begeisterung getrieben wird, sind in Grönland und Labrador, unter den Indianern von Nordamerika, auf den drei Inseln des dänischen und auf fünf Inseln des englischen Westindiens, in Surinam und auf der Südspitze von Afrika Missionen, die noch aus früherer Zeit herstammen, sowie in Neuholland und auf der Mosquitoküste, welche erst neuerdings unternommen wurden. Wiederholt ist auch ein Versuch für Thibet und die Mongolei gemacht worden, bisher jedoch ohne Erfolg. In diesen 14 Missionsprovinzen arbeiten 300 Missionäre auf 70 Missionsstationen. Die Zahl ihrer Pfleglinge beträgt 70,000. Das ist eine kleine Zahl bei der langen Dauer des Missionswerkes und bei den großen Opfern an Menschen und Geld, welche demselben gebracht worden sind. Indessen ist es den Herrnhutern nicht um Massenbekehrungen zu thun; sie taufen nur die Heiden, welche Rede und Antwort von den Hauptpunkten der christlichen Lehre geben können, und ihren Missionären wurde schon 1742 die Instruktion ertheilt: „nicht auf ein Netz es anzutragen, darin man Alles zusammenfaßt, sondern auf eine Auswahl, ein Bündlein der Lebendigen.“
Der jährliche Kostenaufwand für das Missionswerk beläuft sich auf ungefähr 90,000 Thaler. Einen beträchtlichen Theil dieser Summe nimmt die Erziehung der „Missionskinder“ in Anspruch. Die Missionäre nämlich sind gehalten, ihre Söhne und Töchter im zartesten Lebensalter von sich und nach Europa zu geben, wo sie das „Missionsdepartement“ – meist in den Pensionsanstalten von Kleinwelka – erziehen läßt. Freie Gattenwahl ist den Missionären erst seit 1848 zugestanden.
Das Missionswerk hat die Herrnhuter auf die kirchliche Stellung geführt, welche sie einnehmen. Sie bekennen sich zur Augsburgischen Confession, ob sie gleich jedes menschliche System der göttlichen Wahrheit als unvollkommen gelten lassen, und lange vor dem Philosophen von Sanssouci schon die Forderung stellten, daß Jeder nach seiner Façon selig werden solle. Die Sünderschaft des Menschen gegenüber dem Versöhnungstode Gottes ist ihnen Anfang und Ende und der Mittelpunkt ihrer ganzen Glaubenslehre, und die Früchte des Glaubens sind ihnen – nach einem Ausspruche Zinzendorf’s – „nicht Pflichten der Gläubigen, sondern Vorrechte zur Jesusähnlichkeit.“
Für diesen Inhalt, den die Missionäre in Grönland zuerst erkannten, wurde die Form des mährischen Kirchenthums hervorgesucht, als die Missionäre in Westindien der Ordination bedurften, um sakramentale Handlungen gültig verrichten zu können, die Augsburgischen Confessionsverwandten aber herrnhutische Missionäre nicht ordiniren mochten. Indem das Herrnhuterthum sich als Fortsetzung der alten, aus hussitischer Parteizerklüftung 1457 hervorgegangenen Brüderkirche erklärte, gewann es zugleich die Ueberlegenheit historischen Bestandes und die Unabhängigkeit vom Grolle orthodoxer wie pietistischer Eiferer. Mit den bischöflichen Weihen, welche Oberhofprediger Jablonsky in Berlin, des alten Commenius letzter Nachkomme, am 13. März 1735 dem Zimmergesellen David Nitschmann ertheilte, war das Missionswerk der Herrnhuter erst gesichert.
Freilich ist die Fiction einer erneuerten Brüderkirche etwas Gewagtes und das Herrnhuterthum von der alten Brüderkirche etwas wesentlich Verschiedenes. So wenig den Grubenheimern, wie die alten Brüder in Böhmen und Mähren vom Volke genannt wurden, die „Bluttheologie“ des Herrnhuterthums zur „einigen und alleinigen Glaubensmaterie“ entwickelt erschien, ebensowenig war ihnen das Chorwesen, der Kultus und die Verfassung des Herrnhuterthums bekannt; am allerwenigsten hatten sie einen Begriff von dem „Oekonomikum,“ mittelst dessen die Herrnhuter als industrielle Korporation den Bedarf ihrer kirchlichen Stellung decken, und von welchem schon die Synode von 1769 so richtig erkannte als redlich bekannte, daß es „den Ruf in Christo zu schmälern, den Charakter einer Gemeine Jesu zu entstellen“ geeignet sei.
Von der alten Brüderkirche haben die Herrnhuter vorzugsweise nur ihre Kirchenzucht und die Kirchengrade fortgesetzt. Die Kirchenzucht ist bestimmt, christliche Sitte in den Gemeinen aufrecht zu erhalten, und von heilsamem Einfluß, ob sie gleich oft nur schlaff und nicht immer parteilos gehandhabt wird. Sie kann sich von verschwiegener Zurechtweisung bis zu öffentlichem Sprechen vor dem Aufseherkollegium, vom Ausschluß aus der Zahl der Abendmahlsgenossen bis zum Ausschluß aus der Zahl der Gemeinemitglieder steigern.
Den obersten Kirchengrad nehmen die Bischöfe ein, die jedoch nicht wie in der alten Brüderkirche besondere Kirchensprengel verwalten, sondern nur die Ordination verrichten. Zu Kirchenvorstehern werden in der Regel die Gemeinprediger ordinirt. Diakonen sind die angehenden Diener der Gemeine, die als Gehülfen beim Predigen, bei Verwaltung der Sakramente und bei sonstigen Kirchenhandlungen oder Gemeinegeschäften gebraucht werden. Die Annahme zu niedern Kirchendienst besteht in der Verpflichtung zu tüchtigem und willigem Schul-, Anstalts- oder Gemeindienst mittelst Handschlags. Brüder oder Schwestern, welche zum ersten Mal in ein Pfleger- oder Vorsteheramt eintreten, empfangen dazu die Einsegnung.
Jedes Kirchenamt ist für jeden Bruder erreichbar, auch wenn er nicht im Pädagogium zu Niesky, im Seminar zu Gnadenfeld studirt hat, und Aeltester, Arbeiter oder Diener, wie die Herrnhuter ihren Klerus nennen, kann jeder Handwerker werden, auch wenn er nicht, wie einst der Töpfergesell Martin Dober, das alte Testament in der hebräischen, das neue in der griechischen Ursprache zu lesen versteht. Geeignete „Herzensstellung“ und gehörige „Herzenserfahrung“ befähigt zur Ordination und der Klerus, den die Herrnhuter noch im ursprünglichen Werth inne haben, insofern ihre Aemterbesetzung nach dem Loos erfolgt, ist keine Innung, in welche nur aufgenommen wird, wer zünftig gelernt hat.
Es war drei Uhr Nachmittags, als ich aus dem Brüderhaus in’s Gemeinlogis zurückkehrte. Eben rief Glockengeläut die Gemeine zum Chorliebesmahl der ledigen Schwestern zusammen. Der Wirth im Gemeinlogis nahm mich mit sich. Der Gemeinsaal ist wie der Chorsaal, den ich im Brüderhause sah, nur von vergrößertem Maßstab, eine lichte und schlichte, freundliche Räumlichkeit, ohne alle Zierrathen der Kunst. In der Mitte saß auf langen Bänken mit hohen Lehnen das festfeiernde Chor, junonische Gestalten neben welken, verwitterten Matronen, alle in dunklen Kleidern mit dem weißen Häubchen und der rothen Bandschleife daran. Auf den Bänken seitwärts waren die zu Gaste geladenen Chöre, dem festfeiernden Chore gegenüber auf etwas erhöhten Sitzen die Arbeiter und zwischen diesen der „Liturgus“ (Geistlichkeit) hinter einem weiß behangenen, mit hellrothem Band umkränzten Tisch.
Die Feier bestand in Wechselgesängen zwischen Liturgus, Gästen und Festgeberinnen über den jungfräulichen Beruf der letzteren und ihr Brautverhältniß zu Christo, wozu jedem Anwesenden ein Milchbrötchen mit zwei Tassen Thee gereicht wurde. Die gesungenen Lieder hatten wenig poetischen Werth, aber die musikalische Begleitung, unter welcher sie gesungen wurden, war überaus sanft und in ihrer edlen Einfachheit wahrhaft ergreifend.
Die Liebesmahle der Herrnhuter sind denen der alten Christen nachgeahmt. Im Jahr 1731 waren nach einem Abendmahl noch sieben kleine Gesellschaften beisammen geblieben, und der Graf Zinzendorf hatte ihnen aus seiner Küche Essen geschickt, damit sie nicht auseinander zu gehen brauchten. Dieser Anlaß führte auf Erneuerung der Agapen (religiösen Mahlzeiten bei den ersten Christen). Wenn irgend ein Bruder Geburtstag hatte, wenn er auf einen Posten abreiste oder davon zurückkehrte, wenn sonst ein Gemeinfest war, wurden Liebesmahle gehalten.
Anfänglich wurden stets warme Speisen, später Wasser und Wein mit Brot und Salz gereicht, und wechselseitige Unterredung, Austausch von Erfahrungen gegenwärtiger oder abwesender Mitglieder füllte damals den größten Theil der Feier aus. Gegen Ende seines Lebens hielt Zinzendorf jeden Mittwoch und Sonnabend mit seinen Hausgenossen ein Liebesmahl, wozu er die Arbeiter und einzelne Gemeinmitglieder einlud und mit Nachrichten aus dem Reiche Gottes unterhielt. Nach seinem Tode beschränkte man die Feier der Liebesmahle, wie sie gegenwärtig stattfindet, auf die Verbindung mit besonderen Festtagen der Gemeine und mit dem Genuß des heiligen Abendmahls.
In dieser Verbindung werden die Liebesmahle von den Herrnhutern zum „Liturgikum“ gezählt. Das Liturgikum oder der Inbegriff aller gottesdienstlichen Einrichtungen und Gebräuche soll herzansprechende Einfalt zum Charakter haben und dasjenige, was außer dem Herrnhuterthum oft nur Privatsache für Einzelne sei, zum Gegenstand öffentlichen, gemeinschaftlichen Genusses machen. Die Verbreitung christlicher Erkenntniß soll in den Vorträgen mit Förderung der Gefühlsinnigkeit Hand in Hand gehen. Auf die letztere zweckt namentlich die gemüthvolle Art und Weise ab, wie von allgemeinen Kirchenfesten die Advents- und Passionszeit gefeiert wird.
Außer den allgemeinen Kirchenfesten, dem Jahreswechsel, Erntefest und den bereits erwähnten Chorfesten begehen die Herrnhuter auch die Gedenktage ihrer besonderen Kirchengeschichte mit religiöser Andacht. Der Sonntagspredigt geht früh das Gebet der Kirchenlitanei voraus und Abends folgt ihr gewöhnlich eine „Gemeinstunde.“ Neben den Gemeinstunden sind Singstunden, Liturgieen (Wechselgesänge zwischen den einzelnen Chören), Bibellectionen (mit untermischter Erklärung der heil. Schrift) und das Verlesen von Gemeinnachrichten oder Lebensläufen Gegenstand der Abendversammlungen.
Mit dem Jahr 1731 wird das Abendmahl alle vier Wochen, Abends, gefeiert und mit dem sogenannten Sprechen eingeleitet, einer Art Privatbeichte, welche die Vorbereitung der Herzen auf den bevorstehenden Abendmahlsgenuß zum nächsten Zweck, die Unterhaltung gegenseitiger Bekanntschaft zwischen den Chorarbeitern und ihren Pflegebefohlenen zum eigentlichen Endziel hat.
Die Herrnhuter huldigen dem liberalen Grundsatz, daß keine Form den Geist bindet, daß jede Form wegfalle, sobald der Geist daraus entwich. Dieser Grundsatz ist auf Verfassung und selbst auf Einzelheiten der Lehre nicht ohne Einfluß geblieben, seine meiste Anwendung hat er auf das Liturgikum gefunden.
Die Herrnhuter bezeichnen es selbst als ein Kleinod ihrer Kirche, daß sie die Freiheit habe und behalte, in ihrer gottesdienstlichen Weise nach den Umständen und Bedürfnissen zu ändern und zu bessern. So theilten sich seit dem 27. August 1727 je 24 Personen in die 24 Stunden des Tages und beteten jedes während ausgelooster Stunde für alle Diejenigen, deren Anliegen ihnen eigens dazu in einer wöchentlichen Versammlung bekannt gemacht wurden.
Als aber der Drang der Fürbitte nachgelassen und der Abschiedsbrief des alten Wattewille an die Synode von 1769 die Erkenntniß ausgesprochen hatte, daß „das Stundengebet zu einem bloßen Ehrenamt mehr ausgeartet und kaum etwas als der Name davon übrig war,“ so wurde nicht gezögert, mit dem Ehrenamt auch den Namen zu beseitigen und nur ein Nachklang jener liturgischen Einrichtung ist in den allgemeinen und engeren Beterversammlungen der Gegenwart zurückgeblieben. Um dieselbe Zeit wie das Stundengebet und gleich dem Liebesmahl eine Nachahmung apostolischer Sitte wurde auch das Fußwaschen eingeführt, zuerst von Einzelnen gegen Einzelne bei beliebigem Anlaß geübt, später chorweise vor jedem Genuß des Abendmahls vollzogen, zuletzt auf die Feier des Gründonnerstags beschränkt.
Mit dem demüthig einfältigen Sinn aber, der im Fußwaschen seinen symbolischen Ausdruck suchte, kam auch das Fußwaschen selbst in Abnahme und endlich in Wegfall, wie mit der schwärmerischen Zeitströmung von 1745 bis 1750 auch die Illuminationen und Prozessionen des „Seitenhöhlchens“ und all’ die anstößigen Ueberschwenglichkeiten in Lehre und Leben vorüberströmten, welche die Herrnhuter selbst am schärfsten verurtheilen und die sie anfangs zwar „Niedlichkeiten,“ bald aber ihre „Sichtungszeit“ nannten.
Von den Gedenktagen der besonderen Kirchengeschichte ist der 13. November weitaus am wichtigsten. Es ist der Jahrestag der Herrnhutischen Verfassung. Nicht sowohl ihres Ausbaues, als ihrer Grundsteinlegung. Das Herrnhuterthum ist eine Hierarchie. Jede einzelne Gemeine wird durch die Gemeinkonferenzen verwaltet. Obenan steht die Aeltestenkonferenz, welcher die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gemeine zum Zweck einheitlicher Leitung übertragen sind und welche deshalb die für das Innere und Aeußere angestellten „Diener und Dienerinnen der Gemeine resp. ihrer Chöre“ in sich vereinigt. Mit den für das Aeußere der Gemeine angestellten Dienern zusammen bildet eine Vertretung der Bürgerschaft das Aufseherkollegium, das sich mehr mit Gegenständen polizeilicher Natur beschäftigt.
Das Aufseherkollegium hat zugleich die Streitigkeiten zwischen einzelnen Gemeinmitgliedern schiedsrichterlich zu vermitteln, denn alles unnöthige erbitterte Prozessiren gilt als unverträglich mit dem Brüdercharakter, und die allgemeine Almosenpflege zu besorgen, in welcher der brüderliche Charakter des Herrnhuterthums sich am reichsten und reinsten kund gibt. Die Mitglieder der Aeltestenkonferenz und des Aufseherkollegiums bilden mit einer weiteren Anzahl gewählter Vertrauensmänner den Gemeinrath, wo nicht etwa wie in den sächsischen Gemeinen sämmtliche volljährigen Bruder zu demselben gehören. Der Gemeinrath entscheidet in allen die bürgerliche Kommune betreffenden Angelegenheiten.
Den Vorsitz in der Aeltestenkonferenz führt der „Gemeinhelfer,“ im Aufseherkollegium der Gemeinvorsteher, im Gemeinrath einer von beiden je nach der Natur des Gegenstandes, der berathen wird. Sämmtliche Gemeinen bilden miteinander die Unität. An der Spitze der Unität steht die Unitätsältestenkonferenz, welche in Berthelsdorf residirt. Sie theilt sich in drei Departements. Das Helfer- und Erziehungsdepartement berathet den inneren Gemeingang in Lehre und Leben, das Schul- und Erziehungswesen; das Vorsteherdepartement verwaltet die ökonomischen Angelegenheiten und das Missionsdepartement beaufsichtigt das Missionswerk.
Die Unitätsältestenkonferenz wurde auf der Synode von 1769 geschaffen, als mit dem Tode des Grafen Zinzendorf „die mittelbare Weise aufgehört hatte, in welcher der Generalälteste der Brüderkirche mit derselben durch seinen Jünger bis dahin verhandeln konnte.“ Ueber der Unitätsältestenkonferenz stehen die Synoden, welche 1736 aus der alten Brüderkirche entnommen wurden. Sie sind der legislative, die Unitätsältestenkonferenz ist der exekutive Faktor Herrnhutischen Verfassungslebens. Dem Klerus ist auf den Synoden prinzipiell das Uebergewicht gesichert, obgleich auch den verständigen Vorschlägen des Laien die willigste Folge gegeben wird.
Seit 1736 sind bis jetzt 27 Generalsynoden gehalten worden. Alles aber – Synoden, Unitätsältestenkonferenzen, Gemeinkonferenzen und jedes einzelne Gemeinmitglied – wird unter dem speziellen Kirchenregiment des Heilands stehend gedacht, der, um Menschenherrschaft fern zu halten, am 13. November 1741 „von Stuhl und Stab der Brüderkirche als deren Generalältester Besitz genommen habe.“ In zweifelhaften Fällen, wo weder die biblische Anweisung noch das innere Gefühl und die äußeren Umstände hinreichen seinen Willen zu erkennen, forscht man danach mittelst des Looses; doch ist das Loos nur für Diejenigen verbindlich, welche es befragen.
Ich besuchte nach dem Liebesmahl den Gottesacker, der auf der östlichen Seite von Christiansfeld angelegt ist. Schmucklos und ohne Gepränge, aber wohlgeordnet liegen die langen Reihen der Gräber am Fuße der Linden; einfache Leichensteine zeigen gleichförmig über dem Reichen wie über dem Armen und ohne Ruhmredigkeit an, wie er heißt, wo und wenn er geboren war, wenn er „heimgegangen“ ist und selbst im Tode noch sind die Geschlechter geschieden. Nur auf der Brüderseite erhebt sich in einem Winkel ein Denkmal von Sandstein, mit schwarzem Kreuz darüber und dänischer Inschrift darauf; es ist von Dänemark den dänischen Kriegern gesetzt, die nach der Schlacht von Kolding zu Christiansfeld im Lazareth verstarben. Leichensteine, wie sie die Brüder haben, bezeichnen das Grab der deutschen Kämpfer aus jener Zeit. Erhebend aber mag an der Stätte die Feier des Ostermorgens sein, wenn bei den ersten Strahlen der Frühlingssonne die ganze Gemeine sich versammelt und zwischen den Gräbern ihrer Entschlafenen das Gedächtniß des Auferstandenen begeht im Gedanken der Auferstehung.
Die Gemeinstunde hielt Abends ein Redner, der, wie er sagte, in der Wildniß zu Hause und an Handarbeit gewöhnt war. Er hielt einen freien Vortrag über die Loosung des Tages. Frei war nämlich der Vortrag von aller Logik und in der Reihenfolge seiner Gedanken war die Wildniß allerdings zu Hause. Doch fiel das weniger auf. Denn für einen „gemeinmäßigen“ Vortrag kommt es nicht sowohl auf klares und scharfes Denken, als vielmehr auf Anregung der gewohnten Vorstellungen innerhalb der gewohnten Ausdrucksweise an.
Die täglichen Loosungen und Lehrtexte sind Bibelsprüche, von denen jene aus dem alten, diese aus dem neuen Testament für jeden Tag des Jahres ausgeloost und beide mit einer nicht immer zutreffenden Collekte aus dem Brüdergesangbuch begleitet werden. Sie schlingen ein neues Band der Gemeinschaft um alle Mitglieder des Herrnhuterthums.
An demselben Tage werden über denselben Bibelspruch die Betrachtungen im europäischen Betsaal wie zwischen dem Rohrgeflecht der Indianerhütten, bei der Thranlampe der Eskimo’s und unter dem tropischen Sternenhimmel der Plantagenneger angestellt; der Diasporaarbeiter, der vom Fichtel- oder Rhöngebirge herabsteigt, die Vogesen oder Karpathen durchstreift, behandelt zu gleicher Zeit wie sein Arbeitsgenosse auf den Niederungen des Ostseegestades den gleichen Stoff der Hausandacht für seine „erweckten Geschwister,“ und das schüchterne Mädchen, das in stiller Abgeschiedenheit des Schwesternhauses einen Antrag zur Ehe bekömmt oder einen Ruf auf Posten erhält, sucht ebenda einen bestätigenden, warnenden oder – tröstenden Fingerzeig ihrer Bestimmung, wo ihn für sein Wagniß der greise Missionär findet, der als Dolmetscher die englische Nordpolexpedition begleiten soll.
Die Loosungen, die seit 1731 zusammen auf ein ganzes Jahr im Voraus gedruckt werden, vor 1731 aber nur von einem Tag zum andern in den Abendsingstunden bekannt gemacht oder frühmorgens durch den besuchenden „Helfer“ Haus für Haus angesagt wurden, sind eine Erfindung des Grafen Zinzendorf. Indem er sein „Kirchlein in der Kirche“ wie ein Heerlager gegen Sünde und Versuchung, seine „Kinder Gottes“ wie Vorposten gegen den Unglauben und Aberglauben ansah, war der Gedanke ihm nah gelegt, auch eine Parole auszugeben. Und die Parole gibt der Anführer aus. So hat denn auch Zinzendorf, so lange er lebte, die Loosungen allein bestimmt; sie waren die letzte Arbeit seiner letzten Lebenstage und seit seinem Tode sind sie Sache derjenigen geworden, die nach ihm an die Spitze des Heerlagers traten.
Ich verließ Christiansfeld nach der Gemeinstunde, indem ich einen entschieden vortheilhaften Eindruck von der Gemeine mit mir nahm.