Geschichtsschreibung als Machtfrage – Der Cottbuser Goldfund als Beispiel schleichender Hegemonie

Screenshot youtube.com Screenshot youtube.com

Der Fund von massivem Gold am 17. Januar in Ströbitz bei Cottbus symbolisiert mehr als nur einen bedeutenden archäologischen Schatz. Er offenbart, wie Geschichtsschreibung, Forschung und Museumspolitik ihre Deutungsmuster so setzen, dass dominante Narrative den Ton angeben und regionale wie ethnische Vielfalt in den Hintergrund drängen. Der Goldfund wird seither beinahe ausschließlich der Merowingerzeit zugeordnet – ein Paradebeispiel, wie aus archäologischen Tatsachen kulturelle Konstrukte werden.

Die Enteignung des Fundkontextes

Die prominente Einordnung in eine merowingisch-germanische Tradition transportiert mehr als nur eine chronologische Datierung. Sie stärkt das Bild eines frühmittelalterlichen Raums, in dem germanische Gruppen als prägende Kraft erscheinen, selbst wenn die Faktenlage komplexer ist. Dass die Fundstelle im historischen Siedlungsgebiet der Lausitzer Sorben liegt und sogar slawisches Scherbenmaterial in unmittelbarer Umgebung gefunden wurde, spielt in den offiziellen Deutungen kaum eine Rolle. Die kulturelle Besonderheit der Lausitzer Region verschwindet so hinter einem großflächigen Schema vermeintlich deutscher Frühgeschichte.

Hegemonie durch Museums- und Wissenschaftspolitik

Durch die Aufnahme des Goldfunds in zentrale Landesmuseen gehen die Objekte ihren Kontext für immer verloren. Die lokale Gemeinschaft verliert jede Gelegenheit, das eigene Erbe sichtbar zu machen oder aus der Perspektive sorbischer Geschichte zu berichtigen. Stattdessen stehen nun nationale oder europäische Großnarrative im Vordergrund. Forschungspublikationen und Ausstellungen schließen den Fund typologisch an die großen Traditionslinien an – alles, was davon abweichen könnte, wird als Randerscheinung abgetan oder schlicht verschwiegen.

Dominanz der Terminologie – Sprache schafft Realität

Nicht nur durch Sammlungszuordnungen, sondern auch durch die Sprache behauptet sich die kulturelle Hegemonie: Von Merowingern ist die Rede, von germanischer Handwerkskunst und Völkerwanderung. Begriffe, die Deutungen festschreiben und regionale Eigenheiten verdecken. Das sorbische Siedlungsgebiet wird zur bloßen Zufallsnotiz, lokale materielle Hinterlassenschaften werden systematisch marginalisiert. Wer die Ausstellungstexte liest, begegnet einer Welt, in der regionale Kontinuitäten und Identitäten keine eigene Stimme haben.

Forschungskapital und Konzentration der Auslegungshoheit

Die Deutungshoheit liegt fast ausschließlich dort, wo die Ressourcen gebündelt sind: in großen Universitätsstädten, staatlichen Museen, wissenschaftlichen Kommissionen. Sie setzen Standards und Formen der Kategorisierung, die auf überregionalen epochenbezogenen Schablonen basieren. Für kleinere, lokale Fachkreise oder regionale ethnische Gruppen bleibt kein Raum, ihre Sicht der Dinge als gleichwertig zu präsentieren. In solchen Systemen wird jede Besonderheit, die nicht ins Raster passt, als Ausnahme interpretiert – nie als legitime Alternative.

Heuristische Schablonen als Werkzeug der Vereinfachung

Der Rückgriff auf fest etablierte Klassifikationen wie „Merowingerzeit“ mag der Vergleichbarkeit und Kommunikation dienen, ist aber zugleich ein machtvolles Instrument der Vereinfachung. Die vielschichtige, lokal verflochtene Realität wird auf wenige Zeilen im Katalog oder im Museumsführer eingedampft. Je klarer die epochale Zuweisung, desto unsichtbarer werden kulturelle Verflechtungen, Hybridität und Überlagerungen, wie sie die Lausitzer Geschichte tatsächlich prägten. So bleibt ein Erbe zurück, das zwar verfügbar, aber nicht mehr verständlich ist.

Erinnerungspolitik als Verstärker hegemonialer Muster

Was in Forschung und Museumspolitik angelegt ist, setzt sich in der Öffentlichkeit fort. Staatlich geförderte Geschichtserzählungen, Jubiläen, Schulausstellungen und Medienspecials greifen bereitwillig zu den klaren, großen, einprägsamen Narrativen. Sie reproduzieren das Bild eines vermeintlich „germanisch dominierten Frühmittelalters“ und lassen die Spuren sorbischer Kultur oder mögliche Kontinuitäten in der kollektiven Erinnerung fast vollständig außen vor. Das kollektive Gedächtnis wird so gelenkt und gesteuert – die Vielstimmigkeit der Vergangenheit wird zur Einstimmigkeit gedreht.

Die unsichtbare Enteignung kultureller Identitäten

Was bleibt, ist nicht nur das Verschwinden regionaler Geschichte im Strom nationaler Erzählungen. Es ist ein tiefer Riss im kulturellen Selbstverständnis der betroffenen Region. Lokale Gemeinschaften spüren, wie ihre Vergangenheit nicht nur genommen, sondern umgedeutet wird. Wahre kulturelle Anerkennung bleibt ihnen verwehrt. Die Hegemonie der großen Deutungsmuster führt dazu, dass auch künftige Generationen vor allem eines lernen: dass Geschichte nicht die Summe aller Stimmen ist, sondern immer die Geschichte jener, die das Interpretationsmonopol besitzen.

Die subtilen Verlierer der Geschichtsschreibung

Am Lehrobjekt des Cottbuser Goldfunds zeigt sich, wie kulturelle Hegemonie nicht durch offene Unterdrückung, sondern durch unsichtbare Mechanismen der Selektivität und Deutung wirkt. So werden Minderheiten ihrer Vergangenheit beraubt, ihre Kontinuitäten ausgelöscht und das Bewusstsein für eine vielschichtige Herkunft hinausgedrängt. Die gesellschaftliche Folge ist langfristig fatal: Wenn Geschichte keine Heimat mehr bietet, verlieren Gesellschaften den Kompass im Hier und Jetzt – und damit das Fundament echter Vielfalt.