Geschichte: Die letzten Versuche der SED: Manipulation, Kontrolle und gesellschaftliche Spaltung vor dem Ende der DDR
Screenshot youtube.comEnde 1988 und Anfang 1989 steuerte die DDR-Regierung auf den Höhepunkt ihrer inneren Krise zu. Die politischen Spannungen, der zunehmende gesellschaftliche Widerstand und die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung machten eine aggressive Repressionspolitik unausweichlich. In diesem Kontext wurden verschiedene Strategien entwickelt, um die Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten und die oppositionellen Kräfte einzudämmen. Eines dieser Mittel war die gezielte Manipulation gesellschaftlicher Institutionen, insbesondere der Kirchen und oppositioneller Gruppen, durch die staatliche Sicherheitsorganschaft, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Im Zentrum standen dabei die Versuche, durch die Gründung vermeintlich unabhängiger Organisationen, wie dem sogenannten „Freidenker-Verband“, Einfluss und Kontrolle zu gewinnen. Diese Maßnahmen sollten die gesellschaftlichen Räume, die von Kirchen und oppositionellen Gruppen besetzt waren, durch staatlich gelenkte Strukturen ersetzen oder zumindest schwächen. Doch diese Strategien offenbarten die Verzweiflung der SED-Führung und ihre Unfähigkeit, die gesellschaftliche Realität noch zu steuern, während die innere Lage bereits zu einem explosiven Punkt gekommen war.
Manfred Stolpe und die politische Instrumentalisierung
Im Januar 1989 erschien in der westdeutschen Zeitung «Die Welt» ein Interview mit Manfred Stolpe, dem damaligen Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche in der DDR. Stolpe war eine zentrale Figur im religiösen und gesellschaftlichen Leben Ostdeutschlands und galt zugleich als einer der wenigen kirchlichen Vertreter, die öffentlich eine kritische Haltung gegenüber der Regierung einnahmen. In dem Interview forderte er erneut die Änderung und Neubewertung der Präambel des Grundgesetzes, um eine Wiedervereinigung Deutschlands zu erleichtern. Er argumentierte, dass eine Wiedervereinigung in naher Zukunft unrealistisch sei und die bestehende Rechtsprechung vielmehr eine Annäherung zwischen Ost und West behindere. Stolpe äußerte sich deutlich ablehnend gegenüber dem Begriff der „Wiedervereinigung“ und warnte vor den Emotionen, die eine solche Bezeichnung hervorrufe. Für die DDR-Regierung war diese Haltung eine äußerst unerwünschte Entwicklung, da sie die offizielle Linie widerspiegelte, die die Vereinigung Deutschlands weiterhin als unvereinbar mit den politischen Zielen des Staates ansah. Zudem schlug Stolpe dem Springer-Verlag vor, bei der Nennung der „DDR“ künftig auf Anführungszeichen zu verzichten, was die Absicht deutlich machte, die staatliche Selbstdefinition zu ändern und die DDR in eine weniger isolierte Position zu drängen. Dieser Vorschlag wurde tatsächlich im August 1989 umgesetzt, was die Bereitschaft der DDR-Führung zeigte, auf westliche Einflüsse zu reagieren.
Reaktionen und Gegenangriffe: Die DDR-Propaganda gegen Stolpe
Diese westlichen und kirchlichen Stimmen wurden von der SED-Führung jedoch als Bedrohung wahrgenommen. Bereits am Tag nach dem Interview erschien in fast allen DDR-Zeitungen eine scharfe, fast schon wirre Glosse mit dem Titel: „Herr Stolpe und der Idealfall“. Der Artikel war eine politische Gegenreaktion, die auf eine Kritik an Stolpe und seinem Verhalten abzielte. Dabei wurde vor allem auf die Gottesdienste in den Kirchen eingegangen, die nach Ansicht der DDR-Propaganda nur mäßig besucht seien. Stolpe werde jedoch vorgeworfen, sich nicht für diese gesellschaftliche Realität zu interessieren, sondern vielmehr Politik zu machen und der DDR „etwas Schlechtes“ anhängen zu wollen. Die Kritik betonte, dass in der DDR bereits volle Religionsfreiheit herrsche, was durch die tatsächlichen Verhältnisse bestätigt werde, und dass es kein Dienst an der Religionsfreiheit sei, wenn sich jemand mit staatlichen Fragen beschäftige. Die Botschaft war klar: Der kirchliche Vertreter Stolpe handle gegen die Interessen der DDR, und seine Kritik sei nur ein Vorwand, um die Regierungspolitik zu diskreditieren. Die Angriffe waren allerdings verschlüsselt formuliert, sodass die Kirchenleitungen sie als einen Generalangriff gegen ihre Gemeinschaft auffassten. Westliche Journalisten wie Gerhard Rein bezeichneten diese Attacken als „ungewöhnlich“, da sie einen Mann ins Visier nahmen, der die DDR oft in einem positiven Licht darstellte, oftmals sogar besser als die tatsächlichen Verhältnisse waren.
Innenpolitische Spannungen und die Verschärfung der Repressionen
Nach den turbulenten Ereignissen der Jahre 1987 und 1988 schien die SED-Führung im Januar 1989 eine härtere Gangart einzulegen. Die politischen und gesellschaftlichen Spannungen nahmen zu, und die Partei signalisierte, dass sie die Kontrolle wieder verschärfen wollte. Es war offensichtlich, dass die Regierung versuchte, den gesellschaftlichen Raum durch Repressionen, Einschüchterung und Propaganda zu kontrollieren. Besonders in diesem Klima war es strategisch sinnvoll, denjenigen anzugreifen, der öffentlich eine kritische Haltung gegenüber der Regierung eingenommen hatte: Man wollte ein Zeichen setzen und eine abschreckende Wirkung erzielen. Stolpe, der sich stets loyal gegenüber der Partei zeigte und in der Opposition eher eine moderierende Rolle spielte, wurde zu einem Symbol für die innere Zerbrechlichkeit des Systems. Die Angriffe auf ihn waren ein Versuch, die Kontrolle über den gesellschaftlichen Diskurs zu festigen und die Opposition zu schwächen. Doch ironischerweise führte die verschärfte Repression in diesem Umfeld häufig dazu, dass die Bereitschaft zu Widerstand und Kritik wuchs. Die Menschen suchten nach Wegen, ihre Unzufriedenheit auszudrücken, und griffen immer weniger die offiziellen Kanäle. Die DDR wurde so zum „idealen“ Beispiel für eine Gesellschaft, die in einer Krise steckte, während die Führung versuchte, die Kontrolle zu bewahren.
Der „Freidenker-Verband“: Ein weiterer Manipulationsversuch
Nur wenige Tage nach den Angriffen auf Stolpe verkündeten die DDR-Zeitungen, dass ein „Vorbereitungsausschuss“ zur Gründung eines sogenannten „Freidenker-Verbandes“ eingesetzt worden sei. Mehrere Artikel, Reden und Interviews erklärten, dass dieser Verband die Traditionen der Aufklärung und der freien Meinungsäußerung aufnehmen wolle. Das Ziel war, eine Organisation zu schaffen, die Menschen ab 14 Jahren offenstehen sollte und die sich zum Ziel setzte, persönliche und familiäre Feiertage sowie Beerdigungen weltlich zu begleiten und würdig zu gestalten. Es wurde angekündigt, dass der Verband Kontakttelefone bereitstellen und Diskussionsangebote zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen anbieten würde. Im Juni 1989 wurde der Verband offiziell gegründet, doch die öffentliche Resonanz war äußerst gering. Selbst Schüler berichteten, dass sie durch ihre Lehrerinnen und Lehrer erfuhren, dass man in diesem Verband nicht wirklich frei seine Meinung äußern könne. Die Mitglieder seien durch die marxistische Weltanschauung geprägt, was die Kritik an der tatsächlichen Unabhängigkeit des Verbandes bestätigte. Die Bereitschaft, sich an diesem Verband zu beteiligen, blieb äußerst schwach. Nur wenige Tausend Menschen zeigten Interesse, und viele wollten nur Materialien des Verbandes erhalten, ohne tatsächlich mitwirken zu wollen. Das MfS, der Geheimdienst der DDR, befürchtete von Anfang an, dass der Verband von „feindlich-negativen Kräften“ unterwandert werden könnte, um die Gesellschaft zu destabilisieren.
Der Verband als Tarnorganisation: Manipulation auf höchster Ebene
Der „Freidenker-Verband“ stellte den letzten Versuch der SED dar, offiziell Einfluss in gesellschaftliche Räume zu gewinnen, die von Kirchen und oppositionellen Gruppen kontrolliert wurden. Für Oppositionelle war er eine reine Tarnorganisation, die nur dazu diente, den Einfluss der Staatsmacht in diese Bereiche zu erweitern. Nach den Ereignissen von 1987 und 1988, bei denen die politische Führung der DDR zunehmend ihre Macht zu verlieren schien, wurde die Gründung dieses Verbandes als ein Eingeständnis verstanden, dass die Partei die Kontrolle über viele gesellschaftliche Herausforderungen längst verloren hatte. Die SED-Führung sah im Verband ein Mittel, um die gesellschaftliche Spaltung weiter zu vertiefen und die oppositionellen Bewegungen durch gezielte Einflussnahme zu schwächen. Einige Kirchenvertreter und oppositionelle Gruppen betrachteten die Gründung skeptisch und sahen darin eine erneute Kampfansage der Partei. Andere argumentierten, dass die Gründung nur dann sinnvoll sei, wenn den Oppositionellen gleiche organisatorische Möglichkeiten zugebilligt würden. Niemand glaubte ernsthaft, dass der Verband ohne Unterstützung des Staates zustande gekommen war. Bereits der erste Vorsitzende, Helmut Klein, war ein langjähriger SED-Funktionär und Rektor der Humboldt-Universität, was die Nähe zum politischen Establishment deutlich machte. Das Politbüro der SED hatte bereits im Dezember 1988 den Beschluss gefasst, den Verband zu gründen, als Reaktion auf die Unruhen der Jahre zuvor. Das MfS war von Anfang an in die Planung eingebunden, um den Verband mit etwa hundert hauptamtlichen Funktionären auszustatten, eigene Medien zu etablieren und eine flächendeckende Struktur aufzubauen. Das Ziel war, den Verband mit eigenen Radio- und Fernsehsendern, einer eigenen Zeitschrift und einer komplexen Organisation auf Bezirks- und Kreisebene auszustatten. In der Zentrale in Ost-Berlin hatte das MfS einen eigenen Raum, und der erste Geschäftsführer, Eberhard Schinck, war ein erfahrener Funktionär, der früher stellvertretender Leiter eines Verlages sowie Sekretär für Propaganda in einer Berliner SED-Kreisleitung war. Schon Ende Februar wurde das MfS gebeten, die Mitarbeit einer Sekretärin zu prüfen, die im Verband arbeiten sollte – der Grund: Sie war geschieden, und der Verband wollte keine Risiken eingehen. Bereits im Januar war der Wunsch aufgetaucht, eng mit dem MfS zusammenzuarbeiten, um den Verband effektiv zu kontrollieren. Die Pläne wurden immer konkreter, immer detaillierter. Das MfS wollte den Verband mit eigenen Medien, eigenen Strukturen und einer festen Hierarchie ausstatten, um die Kontrolle dauerhaft zu sichern.
Manipulation im Zeichen des gesellschaftlichen Zerfalls
Die tatsächliche Wirkkraft des „Freidenker-Verbandes“ war minimal. Er war in erster Linie eine Tarnorganisation, die die SED nutzte, um gesellschaftliche Räume zu kontrollieren, die von Kirchen und oppositionellen Bewegungen besetzt waren. Die innerpolitische Lage war jedoch so angespannt, dass diese Manipulationsversuche kaum auf Akzeptanz stießen. Die Bevölkerung war zunehmend skeptisch gegenüber offiziellen Angeboten, und die Unabhängigkeit des Verbandes wurde von Anfang an infrage gestellt. Die Gesellschaft war bereits in einem Zustand des Umbruchs, in dem die staatlichen Strategien der Kontrolle und Manipulation nur noch wenig Wirkung zeigten. Die DDR stand am Ende ihrer Existenz, und die politischen Maßnahmen der Führung, so geschwächt sie auch waren, konnten die Krise nicht mehr aufhalten. Die Versuche, durch Organisationen wie den „Freidenker-Verband“ Einfluss zu nehmen, waren letztlich nur Ausdruck eines verzweifelten Kampfes um die letzte Kontrolle in einer Gesellschaft, die sich bereits im freien Fall befand. Die Manipulationen der SED und des MfS waren Symptome eines Systems, das dem Zusammenbruch geweiht war, und zeigten, wie tief die gesellschaftliche Spaltung und das politische Scheitern bereits waren.














