Polybios und die Römische Republik – Zwischen Verfassung, Netzwerken und Gewalt
Screenshot youtube.comPolybios, ein bedeutender Historiker aus dem antiken Griechenland, war ursprünglich führendes Mitglied des Achaiischen Bundes. Im Jahr 167 v. Chr., nach dem Ende des Dritten Makedonischen Krieges, wurde Polybios zusammen mit etwa tausend anderen prominenten Griechen als Geisel nach Italien gebracht. Dort fand er Aufnahme im Haus von Lucius Aemilius Paullus Macedonicus, einem angesehenen römischen Feldherrn. Besonders eng wurde seine Beziehung zu Scipio Aemilianus, dem Adoptivsohn des berühmten Publius Cornelius Scipio, der Polybios nicht nur als Mentor schätzte, sondern auch als Freund und intellektuellen Gesprächspartner. Durch diese Verbindung erschloss sich Polybios der Zugang zur aristokratischen und geistigen Elite Roms im 2. Jahrhundert v. Chr. und konnte tiefgehende Einblicke in die römische Gesellschaft gewinnen.
Die Historien des Polybios: Ein Werk für das griechische Publikum
Polybios verfasste seine berühmten „Historien“ mit dem erklärten Ziel, den Aufstieg der römischen Republik zur Hegemonialmacht im Mittelmeerraum innerhalb eines Zeitraums von nur etwas über hundert Jahren für ein gebildetes griechisches Publikum nachvollziehbar zu machen. Er stellte weniger die bloßen Ereignisse in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, sondern suchte nach den tieferliegenden Bedingungen und Strukturen, die es Rom ermöglichten, sein enormes Potential zu entfalten und zur unangefochtenen Großmacht aufzusteigen. Bereits früh zeigte Polybios großes Interesse an Fragen der Strukturgeschichte, lange bevor diese Disziplin einen eigenen Namen bekam.
Die römische Mischverfassung: Monarchie, Aristokratie und Demokratie im Gleichgewicht
Als gebildeter Grieche war Polybios selbstverständlich mit den politischen Theorien Platons und Aristoteles’ vertraut. Für ihn war es offensichtlich, dass die Leistungsfähigkeit eines Staates in erster Linie von seiner institutionellen Struktur, der sogenannten politeia, abhing. Platon unterschied drei Grundformen der politeia: Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Im sechsten Buch seiner Historien entwickelte Polybios ein Modell der römischen Staatsverfassung, das alle drei Elemente in sich vereinte. Das Konsulat erschien ihm als monarchisches Organ, der Senat verkörperte die aristokratische Komponente und die Beteiligung des Volkes an Wahlen und Abstimmungen stellte den demokratischen Faktor dar. Entscheidend war für Polybios das Gleichgewicht dieser Mächte: Kein Element dominierte dauerhaft, jedes begrenzte das andere und verhinderte so eine gefährliche Machtkonzentration. Diese ausgewogene Mischverfassung machte Rom aus seiner Sicht widerstandsfähig und erfolgreich.
Die unsichtbaren Kräfte der römischen Gesellschaft: Netzwerke und Loyalität
Doch Polybios’ Analyse besaß einen blinden Fleck: Er fokussierte sich stark auf den formalen Staatsaufbau und ließ dabei jene unsichtbaren Bindekräfte außer Acht, die nicht in Gesetzen oder Verfassungen geregelt waren, aber dennoch tief in der Gesellschaft wirkten. Gemeint sind informelle Nah- und Treueverhältnisse, die sowohl horizontal zwischen Gleichgestellten als auch vertikal zwischen Patronen und Klienten bestanden. Diese Beziehungen wurden durch das Konzept der fides – der unbedingten Loyalität und Vertrauenswürdigkeit – zusammengehalten. Die fides verband Freunde, Bekannte, aber auch Personen unterschiedlicher sozialer Ränge. Sie war eine zentrale Ressource im politischen Wettbewerb, die über den Erfolg oder das Scheitern ganzer Karrieren entscheiden konnte.
Politische Karriere als Netzwerkleistung: Die Bedeutung der amici und Klienten
Politische Ämter wurden im Rom der Republik selten aus reinem Ehrgeiz angestrebt. Einer Kandidatur gingen stets intensive Beratungen mit dem Freundeskreis, den amici, voraus. Sobald eine Bewerbung als aussichtsreich galt, aktivierten die Freunde ihre Klienten, um deren Stimmen für den Kandidaten zu sichern. Diese Klienten wiederum waren in ihrer Loyalität verpflichtet, den Empfehlungen ihrer Patrone zu folgen. Quintus Cicero, der jüngere Bruder des berühmten Redners, riet in seinem Leitfaden für Wahlbewerber, stets von vielen Menschen umgeben zu sein. Die Angehörigen, Stammesgenossen, Nachbarn und selbst Freigelassene und Sklaven bildeten das Rückgrat der persönlichen Reputation eines Kandidaten. Das soziale Kapital, das sich in diesen Netzwerken manifestierte, war mindestens so wichtig wie der formale Ablauf von Wahlen und Abstimmungen.
Hinterzimmerpolitik statt offener Demokratie
Was Polybios als demokratisches Element der römischen Mischverfassung identifizierte, war in Wahrheit das Ergebnis eines intransparenten Zusammenspiels zahlreicher überlappender Netzwerke. Die Weichen für politische Entscheidungen wurden selten auf öffentlichen Versammlungen gestellt, sondern schon im Vorfeld in den Privathäusern der einflussreichen Familien. Diese Netzwerke waren meist erblich: Söhne übernahmen von ihren Vätern nicht nur Vermögen, sondern auch politische Kontakte, Klientel und die damit verbundene Autorität. Über Generationen hinweg sicherten so einige wenige Familien ihre Vorherrschaft im politischen Leben der Republik.
Stimmenkauf und die Grauzone der Großzügigkeit
Die Grenzen zwischen legitimer Unterstützung und gezieltem Stimmenkauf waren im alten Rom fließend. Viele Bürger waren auf regelmäßige Zuwendungen in Form von Getreide, Öl oder Geld durch wohlhabende Gönner angewiesen. Politische Loyalitäten ließen sich so nach dem Prinzip „eine Hand wäscht die andere“ festigen. Eine maßgebliche Rolle spielten sogenannte divisores, meist einflussreiche Ritter, die die Verteilung der Zuwendungen steuerten. Der Vorwurf, politische Gegner betrieben Stimmenkauf durch großzügige Bankette oder Geschenke, war ein gängiges Mittel im politischen Schlagabtausch. Cicero beispielsweise beschuldigte Antonius, Wähler mit Banketten und Lebensmittelausgaben bestochen zu haben.
Die zunehmende Gewalt in der späten Republik
Mit dem Niedergang der republikanischen Ordnung nahmen Gewalt und Einschüchterung als Mittel politischer Auseinandersetzung dramatisch zu. Feldherren wie Sulla oder Caesar setzten ihre Soldaten und Veteranen auch für innenpolitische Zwecke ein. Demagogen wie Clodius verfügten über private Schlägertrupps, zusammengesetzt aus Sklaven, Freigelassenen und Klienten, um politische Gegner zu bedrohen oder sogar zu beseitigen. Ein berüchtigtes Beispiel hierfür ist der Zusammenstoß auf der Via Appia im Jahr 52 v. Chr., bei dem Clodius selbst ums Leben kam. Sein Widersacher Milo, der gezielt die Konfrontation gesucht hatte, wurde später von Cicero vor Gericht verteidigt, der auf Notwehr plädierte und die politische Verantwortung Clodius’ für die zunehmende Gewalt betonte. Doch das Gericht folgte Cicero nicht, und Milo wurde schuldig gesprochen.
Die wahre Struktur der römischen Republik
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Polybios mit seinem Modell der Mischverfassung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der römischen Republik leistete, jedoch die enorme Bedeutung informeller Netzwerke und persönlicher Loyalitäten unterschätzte. Die formalen Institutionen wurden durch ein dichtes Geflecht persönlicher Beziehungen, materieller Zuwendungen und nicht selten auch Gewalt ergänzt und überlagert. Die römische Republik war weniger eine idealtypische Mischverfassung als vielmehr ein System, in dem einige wenige Familien mit Hilfe ihrer Netzwerke, ihrer Ressourcen und ihrer Klientel die politische Bühne dominierten und sich ihre Macht von Generation zu Generation sicherten.
















