Leipzig im Aufbruch: Der Weg vom Friedensgebet zur Massenmobilisierung in der DDR

Screenshot youtube.com Screenshot youtube.com

Die Ereignisse in Leipzig zwischen 1987 und 1989 markieren einen entscheidenden Abschnitt im Widerstand gegen die DDR-Diktatur und waren wegweisend für den Verlauf der Friedlichen Revolution. Während in den späten 1970er Jahren die Friedensgebete in Leipzig, wie in vielen anderen Städten der DDR, vor allem als religiöse Zusammenkünfte begannen, entwickelten sie sich im Laufe der Jahre zunehmend zu bedeutenden Plattformen für gesellschaftliche und politische Proteste. Ab 1987 bildeten sich in Leipzig erste Oppositionsgruppen, die nicht nur in den Kirchen aktiv waren, sondern auch öffentlich für Veränderungen eintraten, Protestaktionen organisierten und damit die Grundlagen für den kommenden Umbruch legten. Die Kombination aus religiösem Engagement, wachsendem Unmut und gesellschaftlicher Mobilisierung führte schließlich dazu, dass Leipzig im Herbst 1989 zu einem der wichtigsten Zentren der Friedlichen Revolution wurde. Dieser Zeitraum war geprägt von Spannungen, Konflikten und einer stetigen Verschärfung der Situation, die letztlich zum Fall der Berliner Mauer und zur Öffnung der DDR führte.

Die Entwicklung der Friedensgebete in Leipzig: Von religiösem Gebet zum politischen Forum

Seit Ende der 1970er Jahre hatten sich in Leipzig und anderen Städten der DDR die Friedensgebete als eine Form der stillen, religiösen Meditation etabliert. Diese Gebetsveranstaltungen, die ursprünglich dazu dienten, für den Weltfrieden zu beten, wurden zunehmend zu öffentlichen Ausdrucksformen gesellschaftlichen Widerstands. Die Nikolaikirche in Leipzig war dabei ein zentraler Ort, an dem diese Gebete stattfanden, und sie waren offen für alle Bürger. Die Organisation lag in den Händen der sogenannten „Solidarischen Kirche“ und verschiedener Basisgruppen, die eigenständig und unabhängig handelten. Die Gebetsabende waren längst mehr als nur religiöse Zusammenkünfte; sie wurden zu einem Ort des Austauschs, der Diskussion und des politischen Engagements. Die Teilnehmer nutzten die Gelegenheit, ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen zu artikulieren, und die Gebete wurden immer wieder von Protestaktionen begleitet, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen.

Ein historischer Wendepunkt in der DDR-Geschichte

Nach den dramatischen Ereignissen in Berlin im Januar 1988, bei denen Tausende von Menschen auf die Straße gingen, erlebten die Friedensgebete in Leipzig eine regelrechte Welle des Zulaufs. Besonders Ausreisewillige, die den Wunsch hegten, die DDR zu verlassen, strömten zu den Gebetsveranstaltungen, was die Bedeutung der Gebete als Protestinstrument noch verstärkte. Die Gebetsabende entwickelten sich zu einem Sammelpunkt für alle, die Veränderungen forderten. Immer wieder kam es nach den Gebetsversammlungen und Gesprächsrunden zu öffentlichen Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten, darunter Schwerin, Dresden, Zwickau, Bautzen, Erfurt, Stralsund, Pasewalk, Jena und vielen weiteren. Das Engagement war breit gefächert und zeigte, wie tief der Wunsch nach Reformen in der Bevölkerung verwurzelt war.

In Leipzig selbst wurde das Engagement im Jahr 1988 durch zahlreiche Demonstrationen sichtbar. Besonders im Frühjahr und Sommer fanden montags regelmäßig Zusammenkünfte statt, bei denen die Menschen in der Nikolaikirche beteten, auf dem Kirchenvorplatz versammelten oder in kleinen Gruppen ihre Forderungen laut machten. Am 14. März 1988 wurde eine besondere Aktion durchgeführt: Nach einer Friedensandacht mit 800 bis 900 Teilnehmern in der Nikolaikirche formierte sich ein schweigender Demonstrationszug von etwa 100 bis 120 Personen, der zur Thomaskirche zog. Die Teilnehmer bildeten auf dem Kirchenvorplatz einen Kreis, um anschließend geschlossen zur Nikolaikirche zurückzukehren. Die Aktion wurde von der „Solidarischen Kirche“ vorbereitet und sorgte abends für Aufsehen in den Medien. Die Bilder dieser Demonstration wurden in den Nachrichtensendungen von ARD und ZDF gezeigt und trugen dazu bei, den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Spannungen und Konflikte um die Kontrolle der Friedensgebete

Trotz der öffentlichen Unterstützung und der zunehmenden Teilnahme an den Friedensgebeten stießen die Initiativen auf Widerstand seitens der Kirchenleitung und der Staatsmacht. Die Kirche war von der Umwidmung ihrer Friedensgebete in ein politisches Protestinstrument nicht begeistert. Obwohl die Nikolaikirche seit 1986 offen für alle war und es Gesprächskreise gab, die den Austausch förderten, wurde die Politisierung der Gebete von vielen kritisch gesehen. Besonders die Verbindung zwischen Ausreisewilligen und Oppositionellen, die gemeinsam die Gesellschaft verändern wollten, ging einigen innerhalb der Kirche zu weit. Um die Kontrolle zurückzugewinnen, entschied Superintendent Friedrich Magirius, dass die Friedensgebete künftig nicht mehr eigenständig von den Gruppen vorbereitet und organisiert werden durften. Im August 1988 wurden die betroffenen Gruppen offiziell informiert, dass sie künftig nur noch eine untergeordnete Rolle spielen sollten.

Schon seit Frühjahr 1988 kam es zu Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Friedensgebete. Das Treffen am 27. Juni 1988 wurde zum Symbol dieser Konflikte, denn die kollektive Sammlung an diesem Abend wurde genutzt, um eine hohe Ordnungsstrafe in Höhe mehrerer Tausend Mark zu begleichen. Diese Strafe musste Jürgen Tallig zahlen, weil er im Februar 1988 in einem Fußgängertunnel ein Zitat von Gorbatschow angebracht hatte: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“ Die Reaktion der Behörden zeigte, wie stark der Druck auf die oppositionellen Gruppen wurde. Die Staatssicherheit erhöhte ihre Überwachung, und den Druck auf die Kirchenleitung verschärfte sich. Pfarrer Christoph Wonneberger, der langjährige Unterstützer der Friedensgebete, wurde von Pfarrer Christian Führer abgelöst, um die Organisation zu kontrollieren.

Nach der Sommerpause setzten die Friedensgebete ab dem 29. August 1988 wieder fort. Doch die Spannungen blieben hoch. Bei den Veranstaltungen kam es mehrfach zu Demonstrationen, bei denen Teilnehmer mit Mundbinden „Redeverbot“ trugen. Am 24. Oktober 1988 demonstrierten mehrere Mitglieder der Gruppen mit Transparenten, die gegen die Einschränkung der Friedensgebete und die gesellschaftlichen Missstände insgesamt gerichtet waren. Diese Konflikte trugen dazu bei, dass die Opposition ihre Proteste noch gezielter auf die Straße verlegen wollte, um ihre Forderungen sichtbarer zu machen.

Der erste Jahrestag der Berliner Ereignisse: Aufruf zur Gedenkdemonstration

Im Januar 1989, ein Jahr nach den dramatischen Ereignissen in Berlin, entstand in Leipzig eine gemeinsame Initiative verschiedener Oppositionsgruppen. Die „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“, ein Zusammenschluss verschiedener Leipziger Gruppen, rief zu einer Gedenkdemonstration auf, um an die ermordeten Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu erinnern. Ziel war es, für die grundlegenden Freiheitsrechte einzutreten: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit – und gleichzeitig gegen das Verbot der Zeitschrift „Sputnik“ sowie gegen die Zensur kritischer sowjetischer Filme zu protestieren.

Der Aufruf wurde mit großem Engagement verbreitet. Es wurde geplant, die Demonstration am 15. Januar 1989 um 16 Uhr am Markt vor dem Alten Rathaus zu starten. Von dort aus sollte in Stille ein Marsch zur Gedenkstätte für Liebknecht und Luxemburg erfolgen. Die Gruppen druckten laut eigenen Angaben etwa 10.000 Flugblätter, von denen bis zum 12. Januar bereits 6.000 bis 7.000 verteilt waren. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, doch die Polizei wurde durch eine Denunziation auf die Aktion aufmerksam. Ein Mann, der als IM für das MfS arbeitete, beobachtete zwei Flugblattverteiler und verständigte die Polizei. Innerhalb kurzer Zeit wurden elf Personen festgenommen, zahlreiche Flugblätter beschlagnahmt und die Verteilung gestört.

Trotz der Spannung blieb die Stimmung ruhig

Trotz der Repressionen versammelten sich am 15. Januar 1989 dennoch etwa 150 bis 200 Menschen in Leipzig. Fred Kowasch hielt eine kurze Rede, in der er die Festnahmen bekannt gab. Danach zogen die Teilnehmer schweigend durch die Innenstadt, und weitere Menschen schlossen sich spontan an. Insgesamt waren es zwischen 300 und 500 Teilnehmer, die friedlich und diszipliniert demonstrierten. Trotz der Spannung blieb die Stimmung ruhig, und die Teilnehmer hielten sich an die Regeln, warteten auf Grünphasen an den Ampeln, um keine Provokationen zu riskieren. Die Polizei löste die Demonstration auf und nahm 53 Personen vorläufig fest. Bis zum Abend wurden alle wieder freigelassen. Die Festgenommenen wurden später entlassen, doch die Ereignisse zeigten, wie groß die Angst der Bevölkerung war und wie mutig einzelne den Mut fanden, sich gegen das Regime zu stellen.

Honecker selbst ordnete an, künftig strenger durchzugreifen, um ähnliche Situationen wie im Vorjahr zu verhindern. Die Solidarität mit den Festgenommenen war groß: In verschiedenen Städten wurden Fürbittandachten gehalten, und westliche Medien berichteten kontinuierlich. Auch die internationalen Akteure, wie US-Außenminister Shultz und Bundesaußenminister Genscher, forderten die Freilassung der Demonstranten und unterzeichneten wichtige diplomatische Dokumente. Die Leipziger Ereignisse erhielten so eine staatsübergreifende Bedeutung, die selbst die Verantwortlichen kaum vorhergesehen hatten. Mielke befahl, in Zukunft noch schneller und härter gegen Demonstrationen vorzugehen, um die Kontrolle zu behalten.

Die zunehmende Mobilisierung und die Eskalation im Jahr 1989

Im Frühjahr 1989 verschärfte sich die Lage weiter. Am 13. März demonstrierten etwa 300 Menschen in der Innenstadt, für Ausreiserecht und Reisefreiheit, skandierten „Stasi raus!“ und forderten Reformen. Die Sicherheitskräfte konnten kaum eingreifen, da gleichzeitig die Leipziger Frühjahrsmesse lief, bei der Zehntausende Besucher und zahlreiche Medienvertreter anwesend waren. Die Berichterstattung in den Medien trug dazu bei, die Proteste auch über Leipzig hinaus bekannt zu machen. Am Abend zeigte ARD und ZDF ausführliche Berichte, die die Situation in der DDR sichtbar machten.

Nicht nur die Demonstrationen nahmen zu, sondern auch der Streit um die Organisation der Friedensgebete. Anfang 1989 wurde im Februar vom Kirchenvorstand beschlossen, dass die Gruppen die Montagsgebete wieder eigenständig organisieren konnten. Diese Entscheidung führte jedoch zu heftigen Diskussionen innerhalb der Kirche. Besonders konservative und staatstreue Pfarrer protestierten gegen die zunehmende Politisierung der Veranstaltungen. Landesbischof Hempel versuchte, eine Lösung zu finden, und schlug vor, die Gebete künftig „Montagsgebete“ zu nennen, um den religiösen Charakter zu wahren. Nach mehreren Sitzungen im Mai 1989 wurde schließlich eine Einigung erzielt: Die Friedensgebete sollten wieder eigenständig von den Gruppen gestaltet werden, allerdings unter einem neuen Namen.

Leipzig – Das Symbol des Widerstands auf dem Weg zum Herbst

Diese Entwicklungen waren nur der Anfang einer noch dynamischeren Phase der Opposition. Die innerkirchlichen Konflikte, die wachsende Zahl an Demonstrationen und die zunehmende Bereitschaft der Bevölkerung, sich offen gegen die Regierung zu stellen, legten den Grundstein für die Massenproteste im Herbst 1989. Leipzig entwickelte sich zu einem zentralen Ort des Widerstands, und die Friedensgebete wurden zu einem Symbol für den friedlichen Umbruch. Die Ereignisse in Leipzig waren ein klares Zeichen dafür, dass die DDR sich auf einem Weg befand, den sie nicht mehr aufhalten konnte – ein Weg, der schließlich zum Fall der Mauer und zur deutschen Wiedervereinigung führte.