Blick nach Großbritannien: Privatisierung mit gravierenden Konsequenzen

Die Mehrheit der Verkehrspolitiker in der Region richtet ihren Blick häufig nach Großbritannien, einem Land, das bereits vor Jahren den Schienenverkehr privatisiert hat – mit überwiegend äußerst negativen Folgen. In Großbritannien ist der Satz, dass es sicherer sei, auf ein Rennpferd zu setzen als rechtzeitig mit dem Zug anzukommen, fast schon sprichwörtlich geworden. Die notorischen Verspätungen sind nur die Spitze eines Eisbergs an Problemen, die sich zwischen Brighton im Süden und Inverness im Norden erstrecken. Die britische Presse, darunter reichweitenstarke Zeitungen wie der Daily Mirror und die Daily Mail, veröffentlichen regelmäßig ganze Serien von Berichten, in denen Leser ihre kuriosesten und manchmal haarsträubenden Erfahrungen mit dem sogenannten „schlechtesten Bahnsystem Europas“ schildern. Doch die Schwierigkeiten reichen weit über die chronische Unpünktlichkeit hinaus; auch das Buchungssystem mit bis zu 16 verschiedenen Tarifen pro Strecke sorgt für große Verwirrung und Unübersichtlichkeit, ganz ähnlich wie bei der Deutschen Bahn.
Kundenfrust und steigende Preise: Die Auswirkungen der Bahnprivatisierung
Nicht nur das Tarifsystem ist undurchsichtig, auch das Personal ist vielfach überfordert. Nur wenige Schaffner können zuverlässige Auskünfte über Verspätungen, Zugausfälle oder Anschlüsse anderer Betreiber geben. Für britische Bahnkunden wiegt jedoch besonders schwer, dass nach der Privatisierung die Ticketpreise spürbar gestiegen sind: Selbst bei Sonderkontingenten erhöhten sich die Durchschnittspreise um rund ein Viertel. Auf Hauptstrecken explodierten die regulären Preise sogar um bis zu 245 Prozent. Gleichzeitig berichten Kunden über einen eklatanten Qualitätsverlust: Zahlreiche Beschwerden über ausgefallene Züge, defekte Türen, überfüllte Wagen und sogar von Flöhen befallene Sitze haben dazu geführt, dass die Strategic Rail Authority dem Unternehmen Connex die Lizenz für wichtige Verbindungen entzog. Viele dieser Missstände sind eine direkte Folge der seit Mitte der 1960er Jahre andauernden Unterfinanzierung des Eisenbahnsektors, wurden jedoch durch die Bahnreform Anfang der 1990er Jahre massiv verschärft.
Die Turboprivatisierung unter John Major: Zerlegung eines Staatsunternehmens
Der Reformprozess, der unter Premierminister John Major im Jahr 1993 begann, setzte eine beispiellose Privatisierungswelle in Gang. Margaret Thatcher hatte sich während ihrer langen Regierungszeit kaum an die Bahn gewagt; lediglich Hotels und einige Fährverbindungen wurden verkauft. Ihr Nachfolger John Major hingegen zerschlug British Rail vollständig. Dies geschah aus der Überzeugung, dass der Staat sich aus dem Geschäftsleben heraushalten solle. Die Infrastrukturgesellschaft Railtrack wurde 1996 an die Börse gebracht, meldete jedoch schon nach fünf Jahren Insolvenz an. Seit 2002 firmiert sie als Network Rail wieder in öffentlicher Hand – eine Rückverstaatlichung, die hohe Kosten für die Steuerzahler verursachte.
Beraterhonorare, Personalabbau und Streckenfragmentierung
Die Regierung zog zahlreiche externe Berater hinzu, die sich an kurzfristigen Einnahmen orientierten und die Besonderheiten des Eisenbahnsektors oft ignorierten. Für Beraterleistungen wurden insgesamt rund eine Milliarde Pfund ausgegeben. Gleichzeitig setzte ein massiver Personalabbau ein: Die Mitarbeiterzahl sank von knapp 47.000 im Jahr 1996 auf etwas mehr als 38.000 fünf Jahre später – ein Trend, der schon seit den 1980er Jahren durch Empfehlungen des Serpell Committee eingeleitet worden war. Die Arbeitsproduktivität stieg, aber auch die Belastung für die verbliebenen Angestellten.
Gewinner und Verlierer der Privatisierung
Von der materiellen Privatisierung profitierten vor allem institutionelle Investoren und das obere Management. Die Rolling Stock Companies (ROSCOs) erzielten hohe Gewinne, und führende Manager erhielten zweistellige Millionenbeträge. Währenddessen wurde die Instandhaltung der Infrastruktur an verschiedene private Firmen ausgelagert, wodurch die Verantwortung zersplitterte. Die logistische Sparte wurde von großen Unternehmen wie der Deutschen Bahn übernommen, wodurch der britische Markt weiter fragmentiert wurde.
Fragmentierung und die Folgen für Sicherheit und Zuverlässigkeit
Die Bahnreform zerschlug British Rail sowohl vertikal – durch die Trennung von Infrastruktur und Betrieb – als auch horizontal durch die Aufspaltung in über hundert Einzelfirmen. Diese Zersplitterung schwächte die integrative Kraft des Eisenbahnsystems. Betreiber waren nicht mehr für das gesamte Streckennetz verantwortlich, sondern nur für einzelne Elemente, was zu kurzfristigem Denken und einer Abwälzung von Risiken führte. Die Vergabe von Betriebslizenzen schuf regionale Monopole, und echter Wettbewerb blieb aus.
Monopolbildung und mangelhafte Konkurrenz
Wettbewerb existiert im britischen Bahnsystem nur selten. Wenige große Unternehmen wie National Express, Arriva, Virgin/Stagecoach und die First Group kontrollieren inzwischen den Großteil der Reisekilometer und Einnahmen. In der Praxis gibt es meist nur einen Betreiber pro Strecke, sodass Reisende kaum Alternativen haben. Auch im Busverkehr entstanden durch Vergabe von Lizenzen regionale Monopole, die es den Unternehmen erlauben, Preise und Angebot weitgehend selbst festzulegen.
Sicherheitskrisen und katastrophale Folgen der Zersplitterung
Das Zugunglück von Hatfield im Oktober 2000 markierte einen Wendepunkt. Durch den Riss am Schienenkopf, der wegen Kompetenzstreitigkeiten jahrelang nicht behoben wurde, starben vier Menschen und zahlreiche weitere wurden verletzt. Die Ursache lag klar in der mangelnden Koordination der verschiedenen, nun voneinander getrennten Unternehmen. Zahlreiche Strecken mussten als Langsamfahrstellen gekennzeichnet oder gesperrt werden. Die Auswirkungen waren verheerend: Die Hälfte der Züge war verspätet, das Fahrgastaufkommen brach ein, und es entstanden enorme volkswirtschaftliche Verluste.
Bürokratie, Kosten und Rückverstaatlichung
Die Vielzahl an neuen Geschäftseinheiten, Subunternehmen und Leasingfirmen hat das System extrem unübersichtlich gemacht. Die Betreiberunternehmen versuchen, durch Personalabbau und Investitionsstopp kurzfristige Gewinne zu maximieren, was jedoch langfristig die Infrastruktur und den Service verschlechtert. Die Rücknahme der Infrastruktur in staatliche Hand und anstehende Modernisierungen verursachen weiterhin hohe Kosten. Bis heute ist nur ein Drittel des britischen Netzes elektrifiziert – und die Fahrgäste zahlen die Zeche: Seit der Privatisierung haben sich die Ticketpreise im Schnitt mehr als verdoppelt.
Politische Motive und internationale Lehren
Die Privatisierung des britischen Bahnwesens wurde nicht aus betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern vor allem aus politischem Kalkül vorangetrieben. Die kurzfristig erzielten Einmaleinnahmen sollten die Haushaltslage entspannen. Historiker weisen darauf hin, dass Bahnprivatisierungen häufig ideologisch motiviert waren. Dabei zeigte British Rail im Jahr vor der Reform beachtliche Einnahmen durch Verkehrsleistungen – Werte, die sonst nur von der staatlichen schwedischen Bahn erreicht wurden.
Zweifel an der Bahnprivatisierung als Erfolgsmodell
Die britische Bahnprivatisierung gilt heute als abschreckendes Beispiel für andere Länder. Die Zersplitterung, die Vernachlässigung der Infrastruktur und der Verlust an Servicequalität sowie die hohen Kosten für Staat und Fahrgäste zeigen, dass Wettbewerb nicht automatisch zu mehr Effizienz führt. Die Entwicklung in Großbritannien legt nahe, dass ein Schienenverkehrssystem auf Integration, staatlicher Verantwortung und langfristiger Planung beruhen sollte – und nicht auf kurzfristigen Gewinnen und dem Zerlegen in zahllose Einheiten zum Nutzen weniger Investoren.


















