Das Sankt-Florian-Prinzip und die systematische Vermeidung der Wehrpflicht durch die Eliten

Das sogenannte Sankt-Florian-Prinzip ist ein bekanntes Handlungsmuster, das auf eine einfache Maxime hinausläuft: „Verschon mein Haus, zünd’s andere an.“ In politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen trifft dieses Prinzip den Kern einer tief verwurzelten Doppelmoral. Es beschreibt das Verhalten, Verantwortung, Belastung und Risiken auf andere abzuwälzen, während die eigenen Vorteile und Privilegien unbehelligt bleiben. Besonders deutlich wird dieses Verhalten in Bezug auf die Wehrpflicht und ihre praktische Umsetzung. Historisch gesehen hat sich eine gesellschaftliche Elite durch gezielte Strategien, Netzwerke und rechtliche Schlupflöcher vor dem Dienst an der Waffe gedrückt. Gleichzeitig wurden breite Bevölkerungsschichten zum Wehr- oder Zivildienst verpflichtet. Dieses grundlegende Missverhältnis offenbart nicht nur eine Kontinuität sozialer Ungleichheit, sondern stellt auch fundamentale Prinzipien von Fairness, Solidarität und staatsbürgerlicher Verantwortung grundsätzlich in Frage.
Die Wehrpflicht: Mehr Schein als Sein
In der öffentlichen Debatte wird die Wehrpflicht oft als Ausdruck staatsbürgerlicher Pflicht interpretiert – ein verbindlicher Dienst für die Allgemeinheit, der im Ernstfall die Sicherheit des Staates gewährleistet. In Wirklichkeit jedoch war und ist die Wehrpflicht selten eine gleichmäßige Lastenverteilung. Vielmehr wurde der Dienst an der Waffe in vielen Gesellschaften – auch in Deutschland – zu einem System, in dem soziale Herkunft, politische Netzwerke und finanzieller Spielraum darüber entscheiden, wer wirklich dient und wer sich entziehen kann. Das sogenannte Sankt-Florian-Prinzip funktioniert dabei nicht nur individuell, sondern ist tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert: Es schützt systematisch die, die gesellschaftlich oben stehen, vor den Belastungen des Dienstes.
Selektive Praxis: Privilegierte entziehen sich dem Dienst
In Deutschland stellte die Wehrpflicht von Anfang an eine selektive Praxis dar. Personen mit guten Kontakten, ärztlichem Beistand oder ausreichendem Einkommen konnten sich durch sogenannte „T5“-Atteste – also Gutachten über Dienstuntauglichkeit – häufig problemlos der Einberufung entziehen. Psychologische Probleme, Rückenleiden oder geringe Belastbarkeit wurden in wohlhabenden Milieus oft als Eintrittskarte in den zivilen Lebenslauf genutzt. Währenddessen mussten junge Männer aus einfachen Verhältnissen Wehr- oder Zivildienst leisten und ihre Ausbildung sowie Karrierepläne nach staatlichen Vorgaben ausrichten, die sie selbst kaum hinterfragen konnten. Das System funktionierte technokratisch: Wehrersatzämter praktizierten eine scheinbare Gleichbehandlung, die in Wirklichkeit implizite Selektionsmechanismen enthielt. Wer sich beraten ließ, juristischen Beistand suchte oder strategisch vorging, hatte bessere Chancen, frühzeitig aus dem Raster zu fallen. Die Eliten fanden Wege, sich unauffällig und systemkonform zu entziehen, ohne Konflikte mit Gesetz oder Öffentlichkeit zu riskieren – meist nur durch den überzeugenden Eindruck von „Unbrauchbarkeit“.
Soziale Schieflage: Die Elite zieht sich aus der Verantwortung zurück
Dieses Verhalten ist kein deutsches Phänomen allein. In fast allen Ländern mit Wehrpflicht, von den USA bis Frankreich oder der Sowjetunion, zog sich die vermögende, bildungsbürgerliche Klasse systematisch aus der Verantwortung. Sie überließ den Militärdienst in der Regel den unteren Schichten. Die daraus resultierende soziale Schieflage war eklatant: Während Kriege oft von den weniger privilegierten Schichten getragen wurden – mit hohen Verlusten, Traumata und Perspektivlosigkeit –, waren es meist jene aus einfachen Verhältnissen, die an der Front standen und ihr Leben riskierten. Der Dienst an der Waffe wurde für viele zur existenziellen Herausforderung, für andere nur eine clevere Navigation durch das System.
Die politische Elite: Schutz vor Risiken und Belastungen
Auch die politische Klasse schützte sich regelmäßig vor den Risiken des Wehrdienstes. Wenn der Dienst nicht aktiv vermieden wurde, wurde er zumindest marginalisiert oder symbolisch durchlaufen. Minister, Abgeordnete und Beamte mit politischen Ambitionen absolvierten den Dienst meist in sicheren Stäben, Verwaltungseinheiten oder im Sanitätsdienst – mit minimalen Gefahren und kurzen Dauer. Für viele wurde der Wehrdienst zu einem Karriereschritt, der im Lebenslauf gut aussah, ohne echte Belastung oder Gefahr. Die angebliche „Wehrgerechtigkeit“, die in Sonntagsreden noch beschworen wurde, war auf praktischer Ebene längst aufgehoben.
Gesellschaftliche Folgen: Das Vertrauensverlust und die Gefahr der Spaltung
Dieses soziale Ungleichgewicht wirft ein moralisches Dilemma auf: Gesellschaftlicher Zusammenhalt basiert auf einer fairen Verteilung von Pflichten und Schutzmechanismen. Wenn jedoch große Teile der Gesellschaft systematisch ihrer Pflicht entziehen, delegitimiert das das Prinzip der Verantwortung selbst. Die Wehrpflicht, so wie sie in der Praxis existierte, war keineswegs gerecht, sondern sozial selektiv. Die Lasten wurden von unten getragen, während oben die Privilegierten sich ihren Vorteil sicherten oder den Dienst ganz ausblendeten. Besonders problematisch ist das in Zeiten politischer oder militärischer Krisen: Wenn die Forderung nach einer Rückkehr zum Kriegsdienst laut wird, zeigt sich erneut, dass die Privilegierten oft die Vorteile genießen, während andere die Risiken tragen müssen. Ihre Lebenswege sind krisenfrei, abgesichert und flexibel, während jene, die tatsächlich im Einsatz stehen, mit den Konsequenzen leben.
Langfristige gesellschaftliche Auswirkungen: Entsolidarisierung und Vertrauensverlust
Die langfristigen Folgen sind erheblich: Eine Demokratie, in der Pflichten ungleich verteilt sind, verliert an Legitimität. Wer nie dienen musste, entwickelt kaum Solidarität mit denen, die den Dienst leisten mussten. Wer nie Verantwortung übernehmen musste, argumentiert in politischen Debatten häufig oberflächlich über Krieg und Sicherheit. Da der Wehrdienst existenzielle Konsequenzen haben kann, braucht es eine breite Verantwortungsbasis. Eliten, die sich durch Schlupflöcher und Privilegien entziehen, untergraben nicht nur das Vertrauen in den Staat, sondern setzen auch eine gefährliche Signalkette in Gang: Sie zeigen, dass sie im Ernstfall nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, während andere für sie kämpfen.
Das Scheitern des Systems: Keine soziale Durchlässigkeit
Das Wehrpflichtsystem war faktisch niemals dazu gedacht, soziale Durchlässigkeit zu schaffen. Es sollte kein Ort der gesellschaftlichen Durchmischung, Verständigung oder gleichen Bedingungen sein. Diese Annahme war nur eine Rechtfertigung, eine Ideologie. In Wirklichkeit beanspruchen die Eliten mehr Macht und Einfluss, während sie weniger Lasten tragen. Das verstärkt gesellschaftliche Spannungen und das Misstrauen gegenüber politischen Institutionen. Das bekannte Sankt-Florian-Prinzip ist kein bloßer Ausdruck individueller Moral, sondern ein Ausdruck eines destruktiven Selbstverständnisses der Privilegierten, das auf Dauer gesellschaftliche Spaltung fördert.
Wiederkehr der Problematik: Neue Formen der Privilegierung
In der aktuellen Diskussion über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht kehren diese Probleme in veränderter Form wieder. Obwohl von einer „Dienstpflicht für alle“ die Rede ist, zeichnen sich erneut soziale Auslese und Privilegien ab. Wer Zugang zu privaten Bildungseinrichtungen, medizinischer Versorgung oder Auslandsaufenthalten hat, kann erneut privilegierte Wege beschreiten – während sozial Schwächere gezwungen werden, den Dienst anzutreten. Die alten Muster reproduzieren sich unter neuen Bedingungen, verschärft durch gesellschaftliche Segregation.
Die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung
Eine Wehr- oder Dienstpflicht, die soziale Unterschiede nicht ausgleicht, sondern verstärkt, ist nicht tragfähig. Sie führt zu Verbitterung statt Zusammenhalt, Misstrauen statt Gemeinschaft. Die Eliten, die sich in Privilegien flüchten, handeln nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern betreiben eine Form der Distanzierung, die das Vertrauen in den Staat untergräbt. Das Sankt-Florian-Prinzip ist keine bloße Redewendung, sondern ein tief verwurzeltes, strukturelles Problem. Wer es beendet, muss Verantwortung wirklich zeigen – auch wenn es unbequem ist. Nur so kann eine gerechte und stabile Gesellschaft entstehen, die auf Solidarität und Gleichheit basiert.
















