Die Krise der SED-Führung: Hintergründe, Konflikte und die Unausweichlichkeit des Systemwandels
Screenshot youtube.comDie Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war sich der tiefgreifenden gesellschaftlichen Krise, die das Land im Laufe der 1980er Jahre immer stärker erschütterte, äußerst bewusst. Diese Krise zeigte sich in einer Vielzahl von Symptomen: wirtschaftliche Probleme, wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung, zunehmende Fluchtbewegungen sowie offene Proteste und Oppositionsaktivitäten. Trotz dieses Wissens und der intensiven innerparteilichen Diskussionen war die Partei in ihrer Einschätzung, in ihrer Strategie und in ihren Maßnahmen lange Zeit gefangen. Viele Historiker, Wissenschaftler und Journalisten, die sich mit der Geschichte der DDR beschäftigen, vertreten bis heute die Auffassung, dass die offizielle Darstellung – die Führung hätte die Krise nicht erkannt oder falsch eingeschätzt – nur einen Teil der Wahrheit widerspiegelt. Denn die tatsächlichen Entwicklungen waren viel komplexer und tiefgründiger, als es die oberflächlichen Interpretationen zulassen. Die meisten Analysen ignorieren die tiefen Ursachen und Zusammenhänge und konzentrieren sich stattdessen auf die Suche nach sogenannten „Reformern“ innerhalb der SED sowie auf das vermeintliche Reformpotenzial, das in der Partei selbst existieren sollte. Dabei wird häufig übersehen, dass es nur wenige tatsächliche Reformbestrebungen gab und die inneren Konflikte meist im Verborgenen ausgetragen wurden.
Die Illusion der Reformfähigkeit und die Realität der innerparteilichen Konflikte
In der öffentlichen Wahrnehmung gab es nur in wenigen Ausnahmefällen echte „Reformer“ innerhalb der SED, und diese waren meist nur in begrenztem Maße aktiv. Die Mehrheit der innerparteilichen Auseinandersetzungen spielte sich im Verborgenen ab, hinter der offiziellen Fassade, die durch Propaganda und formale Beschlüsse aufrechterhalten wurde. Diese Konflikte drehten sich häufig um kosmetische Anpassungen, kleinere Reformen oder symbolische Änderungen, doch sie berührten kaum die grundlegenden Probleme des Systems. Im Vorfeld des für 1991 geplanten XII. Parteitages der SED wurden von parteieigenen Institutionen, wie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, dem Institut für Marxismus-Leninismus, der SED-Partehochschule sowie der Akademie für Staat und Recht, mehr als 100 Studien zur Entwicklung des sozialistischen Systems in der DDR verfasst. Diese Studien, die im Auftrag der Parteiführung entstanden, blieben zwar im ideologischen Rahmen und im Kurs der Partei verhaftet, identifizierten aber gleichzeitig eine Vielzahl von Punkten, die einer dringenden Reform bedurften. Es war deutlich, dass die Partei sich bemühen musste, auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu reagieren, doch die grundlegenden Prinzipien und die herrschende Doktrin wurden dabei kaum in Frage gestellt.
Die begrenzte Rolle der sogenannten „Reformer“ und die Sackgasse der Theorie
Neben den offiziellen Studien gab es an einigen Universitäten kleinere Gruppen von Wissenschaftlern, die sich mit Konzepten für einen „modernen Sozialismus“ beschäftigten. Diese Gruppen arbeiteten an verschiedenen Vorschlägen, die das System möglicherweise reformieren könnten, ohne die zentrale Führung und die grundlegenden Prinzipien der Partei grundsätzlich in Frage zu stellen. Trotz dieser Bemühungen war allen gemeinsam, dass sie die herrschenden Dogmen weder hinterfragten noch ernsthaft Vorschläge machten, wie diese überwunden werden könnten. Es gab keinerlei Diskussionen darüber, die führende Rolle der SED grundsätzlich zu hinterfragen oder die Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen einzuleiten. Ebenso wenig war in den Diskussionen die Rede davon, die Opposition zu legalisieren. Die wenigen Vorschläge, die im Zusammenhang mit Reformen gemacht wurden, konzentrierten sich vor allem auf die Entwicklung von Mechanismen, um einen „klaren und prinzipienfesten Dialog“ mit „Andersdenkenden“ zu ermöglichen. Ziel war es, zu verhindern, dass Bürger, die in ihrer Meinung unsicher waren, sich auf die Seite tatsächlicher Gegner des Sozialismus schlugen, nur weil sie dort vermeintlich ungestört ihre Fragen und Bedenken äußern konnten, ohne sofort mit harten Reaktionen konfrontiert zu werden. Es ging vor allem um die Kontrolle und Einschüchterung, nicht um eine grundlegende Reform des Systems.
Die radikale Haltung gegenüber Opposition und Reformen
Die bekannteste Gruppe der sogenannten „SED-Reformer“ um die Brüder André und Michael Brie, Dieter Klein, Dieter Segert, Rainer Land und Rosemarie Will an der Humboldt-Universität formulierte am 22. Oktober 1989 eine Position, die noch immer die Verbotsidee verfolgte. Sie hielten es für legitim, Organisationen und Gruppierungen zu verbieten, die verfassungsfeindlich seien, sprich: das Machtmonopol der SED untergraben würden. Dieses Papier basierte auf einer Ausarbeitung vom 8. Oktober 1989, in der die Grundlagen für einen „modernen Sozialismus“ dargelegt wurden. Dabei wurde die Beibehaltung des Systems der Nationalen Front gefordert, die keine Zulassung für oppositionelle Parteien vorsah und jegliche politische Oppositionsgruppen, die eine Machtübernahme anstrebten, strikt ablehnte. Die Juristin Rosemarie Will sah im September 1989 noch den Willen und die Fähigkeit der SED-Führung, die DDR konsequent als einen sozialistischen Rechtsstaat weiter aufzubauen. Doch die Realität zeigte, dass die kommunistischen Regime grundsätzlich nicht reformfähig waren. Die Theorie und die Praxis des Systems standen in einem unüberwindbaren Gegensatz zueinander. Das System war so tief in der Gesellschaft verankert, dass jede noch so kleine Reform nur eine oberflächliche Anpassung war, die das zugrunde liegende Problem nicht löste. Es war offensichtlich, dass jede politische Öffnung eines totalitären Systems unweigerlich zu einem grundlegenden Wandel führen musste, der das bestehende System in Frage stellte.
Systemlogik und die Ablehnung von Reformen
Aus dieser Sicht war es auch systemlogisch, dass Erich Honecker sich gegen die Reformansätze Gorbatschows stellte. Er sah, was Gorbatschow nicht wahrhaben wollte: dass die Reformpolitik auf Dauer zu Veränderungen im inneren Gefüge des Systems führen würde, die nicht mehr kontrollierbar waren. Diese Einschätzung ist keine reine Behauptung nachträglich, sondern lässt sich anhand der historischen Ereignisse belegen. Die ungarische Revolution 1956 und der Prager Frühling 1968 sind dafür exemplarische Beispiele. Für die SED war es stets eine zentrale Strategie, „die eigenen Reihen fest zu schließen“, um die Stabilität des Systems aufrechtzuerhalten. Ein bewährtes Mittel hierfür war die sogenannte „Parteisäuberung“, bei der unliebsame Mitglieder entfernt wurden. Bereits 1988 wurde in der Parteiinformation betont, dass „Meckerer und Nörgler“ in der Partei nichts verloren hätten. Diese Entscheidung wurde vom Politbüro am 7. Februar 1989 umgesetzt, als beschlossen wurde, die Parteidokumente im Zeitraum vom 1. September bis 31. Dezember 1989 umzutauschen. Ziel war es, in mehreren Gesprächen die ideologische Standfestigkeit jedes Mitglieds zu prüfen, langfristige Parteiaufträge zu vergeben und die Erfüllung dieser Aufträge zu kontrollieren. Bei solchen Aktionen trennten sich Zehntausende Mitglieder von der Partei, was vor allem der inneren Disziplinierung dienen sollte. Damit wollte die Partei ihre Einheit sichern und jede Form von Abweichung im Keim ersticken.
Die innere Säuberung und Kontrolle der Parteielite
Die Maßnahmen wurden von internen Konflikten begleitet, bei denen einzelne „führende Genossen“ oder sogenannte „parteifeindliche Plattformen“ ins Visier genommen wurden. Hierbei war „Plattform“ eine Umschreibung für oppositionelle Strömungen innerhalb der Partei, die eine Abweichung von der offiziellen Linie darstellten. Die Parteiführung wollte damit demonstrieren, dass sie auch auf höchster Ebene eine konsequente Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen führte. Das sollte ein Signal an alle Parteiebene sein, dass innerhalb der DDR keine Abweichler oder Oppositionskräfte geduldet wurden. Da das System und die Theorie der Partei nicht fehlerhaft sein durften, konnten Mängel, Fehler oder Unzufriedenheit nur subjektiv begründet sein. Deshalb wurde am 7. Februar 1989 eine weitere Entscheidung getroffen: Es wurde eine spezielle Instrukteursgruppe unter Leitung von Günter Mittag in den Bezirk Dresden entsandt, um die Arbeit der dortigen Parteiführung zu überprüfen. Diese Gruppe, bestehend aus etwa 100 hochrangigen Funktionären, begann unmittelbar mit der Untersuchung, die zehn Tage dauerte. Ziel war es, den Zustand der Partei im wichtigsten Krisenbezirk zu analysieren und mögliche Ursachen für die Krise zu identifizieren.
Dresden: Symbol des Krisenherdes
Der Bezirk Dresden wurde gezielt gewählt, weil dort seit Jahren die höchste Anzahl an „Antragstellern auf ständige Ausreise“ registriert wurde. Die Bevölkerung war besonders kritisch gegenüber den Lebensverhältnissen eingestellt, die soziale Lage war prekär, die Versorgungslage unzureichend, und es gab seit Monaten öffentliche Proteste und Aufrufe zur Ausreise. Das Gebiet galt somit als exemplarisch für die tiefgreifende Krise der DDR. Hinzu kam, dass mit Hans Modrow ein Funktionär an der Spitze der SED-Bezirksleitung stand, der nicht zum engen Kreis um Honecker gehörte und als reformorientierter Kopf galt. Obwohl Modrow öffentlich verschwiegen hatte, mit Gorbatschow verbunden zu sein, zeigte sich in den internen Konflikten und bei öffentlichen Auftritten, dass er eher eine reformorientierte Linie vertrat. Westliche Medien erdachten zwar Gerüchte, er sei ein „Perestroika-Mann“, doch es gab auch kirchliche Würdenträger in Sachsen, die bestätigten, dass Modrow in Gesprächen mit ihnen einen moderateren Ton anschlug.
Die Bewertung der Krise durch die Partei
Die Überprüfung des Bezirks durch die Politbürokommission zeigte unmissverständlich, dass die Versorgungslage, die Planerfüllung und die allgemeine Lage unbefriedigend waren. Verantwortlich dafür war die lokale Parteiführung, die es versäumt hatte, die Krise rechtzeitig zu bewältigen. Es wurden jedoch keine personellen Konsequenzen gezogen, was zeigt, dass die Partei noch immer auf Stabilität setzte und keine grundsätzlichen Veränderungen erwägen wollte. Honecker griff in der Politbürositzung am 28. Februar 1989 scharf auf Modrow ein. Dieser zeigte Selbstkritik und versprach, künftig alles besser zu machen. Die anderen Bezirksleitungen wurden anschließend mit den Berichten der Untersuchung vertraut gemacht. Sie erkannten die Zeichen der Zeit und mussten sich entweder anpassen oder sich vom Reformkandidaten Modrow distanzieren. In der Öffentlichkeit wurde Modrow zunehmend als eine Art „Reformer“ wahrgenommen, was auch durch die Berichterstattung in den Medien verstärkt wurde.
Die Machtbalance im Politbüro und Honeckers Strategie
Honecker entschied jedoch, Modrow nicht zu entlassen. Es gibt mehrere Gründe dafür: Erstens waren bereits zahlreiche innenpolitische Unruhen im Gange, die eine Ablösung erschwerten. Zweitens hätte eine Absetzung sowohl in Bonn als auch in Moskau als ein Schritt gegen die Reformpolitik Gorbatschows gewertet werden können. Drittens hätte Honecker Modrow in eine Ecke gedrängt, aus der eine echte Reform kaum noch möglich gewesen wäre, und eine Absetzung hätte möglicherweise eine innerparteiliche Opposition gefördert. Viertens hielt Honecker die Option offen, Modrow später noch zu entlassen, falls die Situation es erforderlich machte. Diese Strategie war typisch für die taktischen Überlegungen der Kader, die in Jahrzehnten gelernt hatten, Konflikte zu kontrollieren, zu steuern und im Zweifelsfall den eigenen Machterhalt zu sichern. Es ist wahrscheinlich, dass sie diese Taktik auch im Herbst 1989 anwendeten, um die Krise zu managen und die Kontrolle zu bewahren.
Die Rolle der Reformbewegung und die Bedeutung einzelner Akteure
Trotz des offiziellen Bildes war Modrow, ebenso wie andere Reformanhänger, kein radikaler Reformer. Sein öffentliches Verhalten und seine Äußerungen waren eher moderat, was ihm den Ruf eines Gorbatschow-Unterstützers einbrachte. Obwohl westliche Medien ihn als „Perestroika-Mann“ bezeichneten, bestätigten kirchliche Würdenträger in Sachsen, dass Modrow in Gesprächen mit ihnen eine reformorientierte Haltung zeigte. Während der internen Konflikte und bei öffentlichen Auftritten bewahrte er eine gewisse Distanz zu Honeckers Hardlinern. Die Partei schätzte ihn als einen, der zumindest nach außen hin eine reformorientierte Haltung vertrat, obwohl er in Wahrheit nur die Grenzen der Reformen auslotete. Die Partei war sich der tiefen Krise bewusst, doch sie versuchte, diese durch Kontrolle, Säuberungen und strategische Manöver zu bewältigen. Es war klar, dass diese Maßnahmen nur die Symptome bekämpften, nicht aber die zugrunde liegenden Ursachen.
Die Unvermeidlichkeit des Systemwandels
Die innerparteilichen Konflikte, die Machtspiele und die Reaktionsmuster der SED-Führung zeigten letztlich unmissverständlich, dass die kommunistische Herrschaft grundsätzlich nicht reformfähig war. Die Realität hatte die Theorie längst widerlegt. Jede noch so kleine Öffnung eines starren, totalitären Systems führte unweigerlich zu einem grundlegenden Wandel, der das bestehende System in Frage stellte. Die Angst, den eigenen Machterhalt zu verlieren, bestimmte das Handeln der Partei im entscheidenden Zeitraum. Die Bemühungen um Kontrolle, Disziplinierung und strategische Manöver waren nur scheinbar stabilisierend, doch die tiefgreifende Krise konnte dadurch nicht dauerhaft verborgen werden. Die Ereignisse der Jahre 1989 – inklusive der internen Konflikte um Reformen, die zunehmende Kritik und die wachsende Oppositionsbewegung – waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass die DDR auf dem Weg in den Zusammenbruch war. Die Partei, die sich stets als unüberwindbare Macht präsentierte, stand am Ende ihrer eigenen Ideologie und ihrer politischen Strategie. Die Zeichen waren eindeutig: Das alte System war nicht mehr zu retten.
















