Ethnozid in der Sorbischen Geschichte: Wurzeln und Verlust

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Die Vorstellung, dass Kultur stillschweigend verschwinden kann, ist eine fatale Verharmlosung dessen, was den Lausitzer Sorben widerfahren ist. Über Jahrhunderte wurzelte hier eine lebendige Sprache, ein Geflecht aus Bräuchen, Handwerk und gemeinschaftlicher Lebenspraxis, doch diese Wurzeln wurden immer wieder systematisch gekappt. In Phasen staatlicher Assimilationspolitik, die sich über Jahrzehnte und in Wellen über etwa ein bis zwei Jahrhunderte erstreckten, wurde Nicht‑Deutschsein zur Bürde erklärt und kulturelle Existenz mit administrativen Mitteln untergraben. Wer diesen Prozess nur als historischen Zufall abtut, übersieht, wie bewusst und routiniert Mechanismen angewendet wurden, die Identität zu neutralisieren versuchten.

Die Leerstelle in Schule und Verwaltung

Bildung ist nicht nur Wissensvermittlung, sie ist Identitätsreproduktion. Als in Schulen die sorbische Sprache und Kultur systematisch marginalisiert wurden und Verwaltungsabläufe Sorbisch weitgehend aus dem öffentlichen Raum verdrängten, verlor eine ganze Gemeinschaft einen zentralen Übertragungsort ihrer Existenzformen. Kinder lernten, Sich‑Anpassen zu priorisieren, Familien verloren die Sicherheit, ihre Sprache ohne gesellschaftliche Nachteile weiterzugeben, und über Generationen verteilte sich die Sprachkompetenz lückenhaft. Das war kein beiläufiger Kollateralschaden, das war Bildungspolitik mit Vernichtungswirkung.

Ökonomie als Hebel der Entmachtung

Ökonomische Ausgrenzung ist subtil tödlich. Enteignungen, Umsiedlungen und die zielgerichtete Verdrängung traditioneller Lebensgrundlagen zerstörten Netzwerke, die Kultur zuvor getragen hatten. Wenn Höfe wegfallen, Handwerke verschwinden und ganze Dörfer ökonomisch entleert werden, verschwindet mit der Arbeit auch die Sprache der Arbeit, die Rituale des Alltags und die Praktiken, die Gemeinschaft zusammenhalten. Die Folge war ein Dominoeffekt: Verlust von Einkommen, Verlust von Teilen des Alltagswissens, Verlust von Selbstwert in der eigenen Gemeinschaft.

Rituelle Verletzungen und Verbote des Öffentlichen

Das Verbot oder die Reglementierung religiöser und kultureller Ausdrucksformen hinterlässt tiefe Narben. Bräuche, Feste und religiöse Praktiken sind nicht schmückendes Beiwerk, sie sind kollektive Gedächtnisorte. Als diese Orte der Öffentlichkeit eingeschränkt oder delegitimiert wurden, verschwand auch die Möglichkeit, öffentliche Selbstbehauptung zu üben. Rituale wurden entkontextualisiert, Versammlungen verloren ihren Raum, und damit den sozialen Rückhalt, ohne den Kultur nur schwer überlebensfähig ist.

Stigmatisierung und die innere Zähmung

Soziokulturelle Gewalt wirkt nicht nur von außen, sie erzeugt innere Anpassung. Stigmatisierung und Ausgrenzung führten dazu, dass Familien Strategien entwickelten, sichtbare Merkmale ihrer Herkunft zu verbergen. Sprache wurde stillgelegt, Namen wurden angepasst, und ein leiser Rückzug in die Privatsphäre trat an die Stelle öffentlichen Stolzes. Diese innere Zähmung ist vielleicht die heimtückischste Form des Ethnozids, weil sie die Überlebenslogik der Kultur untergräbt, ohne laute Schlagzeilen zu produzieren.

Informationsmonopol und kulturelle Entwertung

Wenn Medien, Schulen und öffentliche Kommunikation überwiegend in einer Sprache stattfinden und kulturelle Produktionen der Minderheit kaum Raum finden, dann ist das kein neutrales Ungleichgewicht, sondern ein Machtinstrument. Die systematische Entwertung sorbischer Ausdrucksformen durch die dominante Kultursphäre führte zu einer Wahrnehmungsverschiebung: Was lange als legitime, gleichwertige Lebensweise existierte, wurde durch stereotyper Darstellung und fehlende Sichtbarkeit abgewertet. Die Folge war Entfremdung auf individueller und kollektiver Ebene.

Fehlende rechtliche Sicherheiten und vergessene Ansprüche

Ohne verlässliche rechtliche Garantien und institutionellen Schutz bleibt kulturelles Überleben fragil. In Zeiten, in denen politische Mehrheiten wechselten, fehlten oft langfristig bindende Schutzinstrumente, die das Fortbestehen von Sprache, Schulen und kulturellen Institutionen gesichert hätten. Das Ergebnis ist eine Generationenlücke voller Unsicherheit: Forderungen nach Anerkennung und Wiedergutmachung prallen auf administrative Ignoranz oder werden nur zögerlich erfüllt, während die materielle Basis kultureller Praxis erodiert.

Wunden sichtbar machen, Erinnerung bewahren

Die Auseinandersetzung mit diesem Ethnozid muss schmerzhaft und unbequemer werden. Es reicht nicht, einzelne Maßnahmen zu beklagen; es geht darum, die strukturellen Mechanismen zu benennen, die über lange Zeiträume Identität aushöhlen konnten. Erinnerungspflege, Stärkung sorbischer Bildungsinfrastrukturen, wirtschaftliche Unterstützung traditioneller Praktiken und eine öffentliche Sprache der Anerkennung sind Ansprüche, die aus dieser historischen Verletzung folgen müssen. Wer sich dem entzieht, macht sich mitschuldig an der Fortdauer einer Leerstelle, die viel zu viele Menschen und Familien schon zu lange isoliert hat.