Verschwindenlassen: “Heimlich weggeschafft, damit nicht einmal die Menschen, die sie liebten, wussten, was mit ihnen geschehen war”

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Sagt der Name Ulrich Lorenz vielleicht jemanden etwas? Es war ein zeitweise “verschwundener” Staatssekretär gewesen, welcher irgendwann später leblos treibend wieder aufgetaucht ist. Das Phänomen des “Verschwindenlassen” ist auch bei der Polizei nur allzu gut bekannt. Menschen werden nicht offiziell verhaftet, sondern tauchen plötzlich in einer Polizeistation auf und sind dort gegen ihren Willen eingesperrt. Da sie weder irgendeiner Straftat beschuldigt, noch formal als “Festgenommen” gelten, stehen ihnen demzufolge auch keinerlei Rechte zu. Hört sich alles viel zu Unglaubwürdig an?

“Toter Staatssekretär” – “Ermittlungen eingestellt”

>>Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag<<

“Toter Staatssekretär: Ermittlungen eingestellt – Lorenz war am 28. Januar 2013 durch Polizeitaucher aus dem eiskalten Wasser im Bereich der Hörn geborgen worden. Fest steht, dass er in den frühen Morgenstunden des 27. Januar 2013 ertrunken war. Es konnten keine Anzeichen dafür gefunden werden, dass auf den Verstorbenen zuvor mit körperlicher Gewalt eingewirkt wurde, teilte die Kieler Staatsanwaltschaft am Donnerstagvormittag mit.”

“Toter Staatssekretär” – “Polizeitaucher aus dem eiskalten Wasser im Bereich der Hörn geborgen”

Allerdings gibt es auch die Methode der sogenannten “weißen Folter” – welche keinerlei Spuren hinterlässt. Augenscheinlich war die Aufklärung des Falls wohl ohnehin nicht so wichtig gewesen. Kurzum: Ein toter Staatssekretär treibt im Wasser dahin und niemand hat etwas gesehen oder möchte irgendetwas darüber wissen. Ist vermutlich besser auch keinerlei Antworten zu erhalten. – Welcher Polizist oder Staatsanwalt möchte solche Dinge schon wissen? Das wirft natürlich die Frage auf: Was ist wirklich über die internen Vorgänge des Staatsapparates bekannt? Sicher ist eigentlich nur, dass die durchschnittliche Bevölkerung wenig bis gar nichts darüber erfährt. Ein kurzer historische Ausflug in die Vergangenheit kann hier möglicherweise weiterhelfen. Schon im Russland des 17. Jahrhunderts war das Phänomen des “Verschwindenlassen” bekannt.

“Drei der fünf Romanow-Brüder wurden liquidiert oder starben unter mysteriösen Umständen”

>>Die Romanows – Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613-1918 von Simon Sebag Montefiore (Buch) <<

“Im Jahr 1600 nahm Godunow Fjodor und seine vier Brüder ins Visier und beschuldigte sie des Verrats und der Hexerei; unter Folter bezeugten ihre Bediensteten die Hexerei und die Existenz von Verstecken mit »giftigen Kräutern«. Zar Boris brannte einen ihrer Paläste nieder, beschlagnahmte ihre Güter und verbannte sie in den hohen Norden. … Drei der fünf Romanow-Brüder wurden liquidiert oder starben unter mysteriösen Umständen. »Zar Boris entledigte sich unser aller«, erinnerte sich Filaret später. »Er verpasste mir eine Tonsur und tötete drei meiner Brüder, indem er sie erdrosseln ließ. Jetzt hatte ich nur noch meinen Bruder Iwan.« Godunow konnte nicht alle Romanows umbringen, die jeweils besondere Beziehungen zu den rurikidischen Zaren unterhalten hatten – nicht nach dem rätselhaften Tod von Zarewitsch Dimitri. Denn das Verschwindenlassen von Kindern aus Königsfamilien durch machthungrige Verwandte führt nicht selten dazu, dass ebenjene Macht zerstört wird, die sie anstreben.”

“Verschwindenlassen von Kindern aus Königsfamilien durch machthungrige Verwandte”

Solche internen Machtkämpfe mit kühler Logik aufzuklären: Diese Versuche müssen logischerweise scheitern. Diese Verstrickungen können mitunter so kompliziert sein, dass nicht mal die unmittelbar Beteiligten durchblicken. Das Phänomen des “Verschwindenlassen” ist aber weltweit verbreitet und im Zentrum des Geschehens steht entweder die Erlangung oder die Erhaltung von Macht.

“In Argentinien hat die Militärjunta während des schmutzigen Kriegs zwischen 1976 und 1983 Menschen »verschwinden« lassen”

>>Wenn Männer mir die Welt erklären von Rebecca Solnit (Buch) <<

“In Argentinien hat die Militärjunta während des schmutzigen Kriegs zwischen 1976 und 1983 Menschen »verschwinden« lassen. Man ließ Dissidenten, Aktivisten, Linke, Juden verschwinden, Männer wie Frauen. Sie wurden, wenn möglich, heimlich weggeschafft, damit nicht einmal die Menschen, die sie liebten, wussten, was mit ihnen geschehen war. Zwischen fünfzehn- und dreißigtausend Menschen wurden auf diese Weise eliminiert. Die Leute sprachen nicht mehr mit ihren Nachbarn und Freunden, weil sie befürchteten, alles und jeder könnte sie verraten. Ihre Existenz wurde zunehmend ausgehöhlt, während sie versuchten, sich vor der Nichtexistenz zu schützen. Tausende wurden zu Verschwundenen, zu desaparecidos, aber die Menschen, die sie liebten, hielten sie am Leben. Die Ersten, die ihre Stimme gegen das Verschwindenlassen erhoben, die Ersten, die ihre Angst überwanden, den Mund aufmachten, sichtbar wurden, waren die Mütter. Sie wurden Las Madres de la Plaza de Mayo genannt, denn sie waren die Mütter der Verschwundenen und begannen sich auf einem Platz zu zeigen, der gleichsam das Herzstück des Landes war – vor der Casa Rosa, dem Präsidentenpalast, auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, der Hauptstadt –, und nachdem sie einmal dort erschienen waren, weigerten sie sich, wieder zu gehen.”

“Heimlich weggeschafft, damit nicht einmal die Menschen, die sie liebten, wussten, was mit ihnen geschehen war”

Speziell in Argentinien wurde das ganze Ausmaß des “Verschwindenlassen” sicherlich nicht vollständig, aber im Vergleich zu anderen Staaten recht gut aufgeklärt. Es wurden all jene Menschen verfolgt, die irgendwie als Kritiker der Militärregierung ins Fadenkreuz geraten sind. Auch in anderen Staaten lief das “Verschwindenlassen” nach vergleichbaren Muster ab, wie beispielsweise in Kuba ungefähr Anfang des 20. Jahrhunderts.

“Das »Verschwindenlassen« oppositioneller Politiker gehörte schon in der ersten Amtszeit Machados zu den Alltagsaufgaben der Geheimpolizei”

>>Die Bacardis – Der Kuba-Clan zwischen Rum und Revolution von Ursula L. Voss (Buch) <<

“Statt mehr Schulen zu bauen, wie im Wahlkampf versprochen, mussten schon im Jahr nach der Wahl Machados Schulen geschlossen werden, weil kein Geld für die Bezahlung der Lehrer da war. Der Ex-General zog es vor, den US-amerikanischen Gläubigerbanken pünktlich die alljährlich anfallenden Schuldzinsen zu zahlen und das verbleibende Geld in die Ausstattung der Armee zu stecken. Auf Protestaktionen von Arbeitern und Studenten reagierte er mit dem Verbot der PCC und der Inhaftierung ihrer Führer. Das »Verschwindenlassen« oppositioneller Politiker gehörte schon in der ersten Amtszeit Machados zu den Alltagsaufgaben der Geheimpolizei. Unter den führenden Köpfen der PCC war auch der Student Julio Antonio Mella – heute als Märtyrer der kubanischen Befreiungsgeschichte geehrt. Im Auftrag Machados wurde er im mexikanischen Exil umgebracht.”

“Student Julio Antonio Mella” – “Im Auftrag Machados wurde er im mexikanischen Exil umgebracht”

Das “Verschwindenlassen” von Personen hat sich sogar im Völkerrecht niedergeschlagen. Darin wird es explizit genannt, sondern auch einen Begehungszusammenhang herstellt.

“Verschwindenlassen” – “Taten, die in einen ausgedehnten oder systematischen Begehungszusammenhang eingebettet sind”

>>Völkerrecht von Andreas von Arnauld (Buch) <<

“Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind im Unterschied zum Genozid gegen eine beliebige Zivilbevölkerung gerichtet; die Geschlossenheit einer sozialen Gruppe ist nicht nötig. Die Tathandlungen überschneiden sich z.T. mit denen des Völkermordes, unterscheiden sich aber durch das Tatobjekt (Zivilbevölkerung, nicht bestimmte Gruppe) und die abweichende subjektive Zielrichtung. Als Tathandlungen kommen in Betracht: vorsätzliche Tötung, Ausrottung, Versklavung, Vertreibung und Deportation, Freiheitsentziehung, Folter, sexuelle Gewalt, Verfolgung (im Sinne eines völkerrechtswidrigen schwerwiegenden Entzugs von Grundrechten), Verschwindenlassen (forced disappearances), Apartheid, Zufügung (sonstiger) schwerer physischer oder psychischer Leiden. Vom Tatbestand erfasst sind nur solche Taten, die in einen ausgedehnten oder systematischen Begehungszusammenhang eingebettet sind.”

“Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind im Unterschied zum Genozid gegen eine beliebige Zivilbevölkerung gerichtet”

Natürlich sollte sich hierbei niemand irgendwelchen Illusionen hingeben. Die strafrechtliche Aufarbeitung und Verfolgung des “Verschwindenlassens” fand fast ausnahmslos nach einem fundamentalen politischen Umbruch statt. Ansonsten ist von offizieller Seite in dieser Hinsicht wenig zu erwarten. Und wie sieht es eigentlich in der Gegenwart und nicht in fernen Ländern aus? Als Beispiel ist hier der recht unscheinbare § 163b StPO und der Identitätsfeststellung zu nennen.

“Die Maßnahmen zur Identitätsfeststellung sind in § 163b StPO geregelt”

>>JuraForum.de<<

“Die Maßnahmen zur Identitätsfeststellung sind in § 163b StPO geregelt. … Fragen zur eigenen Person sollten im Rahmen einer Identitätsfeststellung beantwortet werden. Auf darüber hinausgehende Fragen müssen Befragte jedoch nicht eingehen. Sollte eine Identitätsfeststellung nicht oder nur mit großem Aufwand möglich sein, ist die Polizei berechtigt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Identität der Person festzustellen. So kann die Person mit zur Wache genommen werden, gegebenenfalls kann auch eine Durchsuchung durchgeführt werden.”

“Identitätsfeststellung” “Person mit zur Wache genommen werden, gegebenenfalls kann auch eine Durchsuchung durchgeführt werden”

Bei der Identitätsfeststellung muss der Person keinerlei Straftat vorgeworfen werden. Da die Betroffnen weder irgendeiner Straftat beschuldigt, noch formal als “Festgenommen” gelten, stehen ihnen demzufolge auch keinerlei Rechte eines Inhaftierten zu. Die Person kann zur Identitätsfeststellung auf eine weit entfernte Polizeiwache mitgenommen werden und sie kann weder ihren Anwalt, noch einen Angehörigen kontaktieren. Einen zeitlichen Rahmen legt der § 163b StPO ebensowenig fest, darin ist nur schwammig von einer Verhältnismäßigkeit die Rede. In der Gerichtspraxis ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, damit bei einen Amtsgericht etwas zu erreichen. Demzufolge können Personen bei der Identitätsfeststellung durchaus als “Verschwunden” betrachtet werden.