Plötzlich Patient – Weshalb wir die Leistungsfähigkeit unseres eigenen Körpers oft zu hoch einschätzen?

Vielleicht gehört es zu den größten Irrtümern unseres Menschseins, dass wir uns selbst und unseren Körper maßlos überschätzen. Wir glauben an die Belastbarkeit unseres Organismus, vertrauen darauf, Schmerzen und widrige Umstände dauerhaft wegstecken zu können. Unser Alltag ist von der Annahme geprägt, dass alles so bleibt, wie es gerade ist – dass uns nichts wirklich aus der Bahn werfen kann. Routiniert planen wir unsere Zukunft, sparen für das Alter, machen uns Gedanken über das nächste Abendessen und rechnen fest damit, lange und gesund zu leben. Doch das Leben hält sich nicht an unsere Pläne. Ein einziger unbemerkter Moment im Straßenverkehr, eine plötzliche Erkrankung, ein versagendes Organ oder eine globale Krise wie eine Pandemie – all das kann unser Leben grundlegend und unerwartet verändern. Diese Gedanken sind kein Aufruf zu ständiger Angst, sondern vielmehr eine Erinnerung daran, das Leben bewusster wahrzunehmen.

Die Realität im Pflegeberuf: Zwischen Erfüllung und Belastung

Es gibt zahlreiche Gründe, die den Pflegeberuf zu einem einzigartigen und erfüllenden Beruf machen. Gleichzeitig ist kaum ein anderes Tätigkeitsfeld derart herausfordernd, körperlich wie seelisch. Der Alltag auf der Intensivstation oder in anderen Fachbereichen konfrontiert Pflegekräfte täglich mit existenziellen Fragen und Extremsituationen. Was diesen Beruf jedoch besonders prägt, ist die unmittelbare Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, entwickelt zwangsläufig ein Bewusstsein dafür, dass das Leben jederzeit zu Ende gehen oder eine drastische Wendung nehmen kann – unabhängig von Alter, Plänen oder Lebensumständen. Kein Termin, keine To-Do-Liste und keine Zukunftsplanung schützt vor der Zerbrechlichkeit des Daseins.

Plötzliche Schicksalsschläge – Die Ohnmacht angesichts des Unvorhersehbaren

Ein Beispiel, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, war ein erst 32-jähriger Patient, der nach einem Sturz aus dem Fenster auf unserer Station eingeliefert wurde. Ob Unfall, Fremdverschulden oder Suizid – niemand wusste Genaueres, und der Patient konnte dazu keine Auskunft mehr geben. Sein Schädel-Hirn-Trauma war so schwer, dass er beatmet und sediert werden musste. Nur wenige Monate zuvor hatte er die Hochzeit mit seiner Verlobten geplant, eine gemeinsame Reise gebucht und sich auf ein gemeinsames Leben gefreut. Nun lag er regungslos auf der Intensivstation, seine Zukunft ausgelöscht. Die Verlobte besuchte ihn regelmäßig, sprach von den geplanten Ringen, dem Leben, das vor ihnen liegen sollte – doch er wurde nicht mehr wach. Er starb. Diese Erfahrung war erschütternd und traurig, und sie verdeutlichte, wie schnell sich alles ändern kann.

Die ständige Konfrontation mit Leid und Ungewissheit

In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wird das Personal täglich Zeuge solcher Schicksalsschläge. Wir erleben hautnah, wie Leben zerbrechen, Familien auseinandergerissen werden und Hoffnung schwindet. Trotz fundierter Ausbildung sind wir in vielen Situationen ratlos. Es gibt keine Handlungsanweisung dafür, wie man mit der Angst, Verzweiflung oder dem Tod eines Menschen umgehen sollte. Medizinisches Wissen hilft, wenn es um Werte, Diagnosen oder Notfallmaßnahmen geht – doch in emotionalen Ausnahmesituationen fehlt oft die richtige Antwort. Jeder, der in diesem Bereich arbeitet, kennt diese Unsicherheit und das Gefühl, überfordert zu sein.

Überforderung und persönliches Wachstum

Mein erster Fall, der mich an meine Grenzen brachte, ereignete sich, als ich Anfang zwanzig war – frisch examiniert, voller Idealismus und Tatendrang. Während der Ausbildung hatte ich zwar bereits Notfälle und Todesfälle erlebt, doch nichts hatte mich auf den Umgang mit Sterbenden unter solch emotionalen Umständen vorbereitet. Eine Patientin, Mitte dreißig, litt an einem fortgeschrittenen bösartigen Tumor. Sie hatte bereits Metastasen in der Lunge, ihre Atemnot war groß, ihr Zustand kritisch. Sie sprach kaum noch, wurde aber liebevoll von ihrem Mann und ihren beiden kleinen Kindern besucht. Trotz der Ausnahmesituation herrschte bei den Familienbesuchen eine bemerkenswerte Ruhe und Zuwendung.

Ohnmacht und das Ringen um die richtigen Worte

Eines Abends verschlechterten sich ihre Vitalwerte. Als ich sie besuchte, sah ich ihre Angst sofort – sie schwitzte, Tränen standen in ihren Augen. Die Worte „Ich habe Angst“ sagte sie kaum hörbar. Was hätte ich antworten sollen? „Alles wird gut“ erschien mir unehrlich, ich fühlte mich hilflos und überfordert. Es gibt Momente, in denen jedes Wort zu viel oder zu wenig erscheint. Letztlich nahm ich ihre Hand und sagte nur: „Ich passe gut auf Sie auf. Sie sind nicht allein.“ Das war alles, was ich tun konnte. Doch es zeigte Wirkung: Sie beruhigte sich, ihre Werte normalisierten sich und sie schlief ein.

Die Lehren aus Extremsituationen

Diese Erfahrung hat mich geprägt. Sie hat mir gezeigt, dass es im Angesicht existenzieller Angst und Trauer manchmal keine passenden Antworten gibt. Es genügt, präsent zu sein und ehrliche Zuwendung zu schenken. Ein einfacher Satz, eine Geste der Nähe können mehr Trost spenden als jede medizinische Maßnahme. Diese Lektion habe ich mir bewahrt – für Situationen, in denen Worte fehlen und Hilflosigkeit übermächtig erscheint. Auch Angehörige brauchen solche Zeichen der Anteilnahme. Es ist eine der wichtigsten und zugleich schwersten Aufgaben in der Pflege: Menschlichkeit zu zeigen, auch wenn man selbst innerlich schwankt.

Verletzlichkeit anerkennen und Lebenswert schätzen

Die Arbeit im Gesundheitswesen lehrt uns immer wieder, wie trügerisch das Gefühl von Sicherheit und Unverwundbarkeit ist. Statt an der Illusion festzuhalten, alles kontrollieren zu können, sollten wir unsere eigene Verletzlichkeit anerkennen – nicht aus Angst, sondern um das Leben bewusster zu schätzen. Es braucht Mut, sich dieser Wahrheit zu stellen, aber es ist die Voraussetzung für echte Empathie – im Berufsalltag, im Umgang mit Patienten und nicht zuletzt im eigenen Leben.