Handelte es sich beim frühen antiken Christentum um einen Mysterienkult?
Die Verfolgungen führten dazu, dass einige Christen gezwungen waren, ihren Glauben in gewisser Weise heimlich zu praktizieren, jedoch war das Christentum an sich nicht geheim. Jeder hatte die Möglichkeit, an den Kultveranstaltungen teilzunehmen, und die Gemeinschaft war für alle offen, seitdem Paulus die Verbindung zwischen dem Judentum und dem Christentum durchtrennt und auf seinen Missionsreisen die Erlösung für alle verkündet hatte, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Die Taufe stellte den Übergang von der Dunkelheit des Unglaubens zum Licht des Glaubens dar. Sie war ein Initiationsritus, jedoch in einem niedrigschwelligen Rahmen, sodass niemand ausgeschlossen wurde.
Eine getaufte Person war damit nicht in geheime Lehren oder Praktiken eingeweiht. Im Gegensatz dazu waren die Mysterienkulte von Geheimnissen umgeben, bei denen die Aspiranten zunächst einen Initiationsritus durchlaufen mussten, bevor sie in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Der älteste dieser Mysterien war der Demeter- und Persephone-Kult in Eleusis, etwa 30 Kilometer nordwestlich von Athen gelegen. Der zentrale Mythos der Eleusinischen Mysterien handelt von der Getreide- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihrer Tochter Kore.
Kore wurde von Hades, dem Herrscher der Unterwelt, entführt und als Persephone zur Königin der Toten erhoben. Demeter begibt sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Tochter. Aufgrund ihrer Trauer vernachlässigt sie ihre Aufgaben als Beschützerin des Ackerbaus, was zu einem Winter führt. Kälte hemmt das Pflanzenwachstum, die Ernte bleibt aus und die Menschen leiden Hunger. Schließlich findet Demeter ihre geliebte Tochter bei Hades. Sie schließt einen Pakt mit Hades, vermittelt durch Zeus, der besagt, dass Kore während der Wintermonate als Persephone bei ihm bleiben soll. Ihr Aufenthalt in der Unterwelt symbolisiert die Aussaat in dieser Zeit. Die restlichen acht Monate verbringt sie bei ihrer Mutter. Wie jeder Mythos hat auch diese Erzählung eine erklärende Funktion: Sie verdeutlicht den Rhythmus der Jahreszeiten und den Wachstumszyklus.
Die Ursprünge der Eleusinischen Mysterien sind in einer fernen Vergangenheit verloren. Möglicherweise stammen sie aus einem Kult, der bis in die mykenische Zeit um 1500 v. Chr. zurückreicht. Der Begriff „Mysterien“ lässt sich sprachlich nicht eindeutig zurückverfolgen; er scheint bereits in mykenischer Zeit den Kult von Eleusis bezeichnet zu haben. Das Verb μυέω (myéō – „lehren“, „einweihen“) leitet sich sekundär davon ab. Die Geschichte des Begriffs deutet darauf hin, wie bedeutend dieser Kult war, da er einen so starken Eindruck im griechischen Wortschatz hinterlassen hat. Bereits im sogenannten Homerischen Hymnos an Demeter aus dem späten 6. Jahrhundert wird auf das Geheimnisvolle des Mysterienkults verwiesen: Niemand darf jemals seine Geheimnisse verletzen oder erforschen; große Ehrfurcht vor den Göttern lässt Menschen verstummen.
Da die Praktiken des Kultlebens geheim waren und es den Teilnehmern unter Androhung von Strafe untersagt war, Details öffentlich zu machen, wissen wir nur grob Bescheid über das Geschehen in Eleusis. Selbst Pausanias, der normalerweise gut über lokale Mythen und Kulte in Griechenland informiert war, konnte über die Mysterien von Eleusis nur wenig berichten.
Wie wurde man Eingeweihter? Ähnlich wie im Christentum waren auch die Mysterien grundsätzlich für alle zugänglich: Frauen konnten ebenso wie Nichtbürger und Sklaven eingeweiht werden. Voraussetzung war lediglich die Beherrschung der griechischen Sprache und die Abwesenheit von Blutschuld. Wer jedoch dem Kreis der Eingeweihten beitreten wollte, musste einen komplexen Ritus in mehreren Etappen durchlaufen, dessen Einzelheiten nicht genau bekannt sind. Die erste Stufe waren die sogenannten „kleinen“ Mysterien (Myesis), die im „Blütenmonat“ Anthesterion Ende Februar bis Anfang März zu Ehren der aus der Unterwelt zurückkehrenden Persephone gefeiert wurden. Diese fanden im Ort Agrai südöstlich von Athen statt, wo sich ein Tempel für Demeter und Kore sowie ein weiterer für Triptolemos befand. Ein Schwein wurde geopfert und die Kandidaten einer rituellen Reinigung unterzogen; auch die Priester nahmen ein reinigendes Bad im Fluss Ilissos.
Wichtiger waren jedoch die Teletai oder „großen“ Mysterien, die Ende August bis Anfang September zur Hoch-Zeit der Ernte gefeiert wurden. Sie begannen am 14. Tag des Monats Boedromion mit dem Rücktransport der heiligen Geräte aus Eleusis zum Eleusinion, einem Tempel an der Akropolis. Danach eröffnete der Hierophant, der dem Priesterkollegium vorstand, die Feierlichkeiten mit einer Erklärung: diejenigen mit unreinen Händen – also solche mit einem Menschenleben auf dem Gewissen – oder unverständlicher Sprache sollten fernbleiben. Die Mysten, die zum ersten Mal an den Teletai teilnahmen, wuschen sich im Meer bei Phaleron östlich des Piräus. Ab dem 18. Boedromion fasteten die Mysten, da auch Demeter während ihrer Suche nach ihrer Tochter nichts gegessen hatte.
Am folgenden Tag machte sich die gesamte Kultgemeinde einschließlich der bekränzten Mysten in festlichem Umzug vom Kerameikos im Zentrum Athens nach Eleusis auf. Die heiligen Geräte wurden in Kisten verstaut getragen von Priesterinnen, um sie vor den Blicken der Umstehenden zu verbergen; währenddessen sangen sie im Chor Iakché, Iakché den Namen eines Dämonen der Göttin Demeter. Als der Zug die Stadtgrenze zwischen Athen und Eleusis überquerte, wurden obszöne Ausdrücke gerufen (gephyrismoí). Dieses Ritual spielt auf Iambe an, eine Magd, von der gesagt wird, dass sie die trauernde Demeter mit deftigen Scherzen tröstete. In Eleusis angekommen brachen die Teilnehmer ihr Fasten sobald die Sterne sichtbar wurden; das Fastenbrechen wurde mit Kykeon gefeiert – einem Getränk aus Wasser und Gerste mit Polei-Minze als Rauschmittel.
Die Nichteingeweihten durften die Kultgemeinde bis zu einem Areal begleiten, auf dem sich Tempel für Artemis (die Jagdgöttin), Poseidon (den Meeresgott) und Kallichoron (den „Brunnen des schönen Tanzes“) befanden. Dahinter lagen die Großen Propyläen – der Eingang zum Heiligen Bezirk von Demeter – zu dem nur Mysten Zutritt hatten; anschließend folgte ein zweiter Torbau – die Kleinen Propyläen. Wer diesen passierte trat auf die Heilige Straße zum Telesterion ein – einer Halle von 54 mal 54 Metern für bis zu 7000 Besucher. In der Mitte des Raumes befand sich das Anaktoron – ein großer rechteckiger Altar – zu dem ausschließlich Priester Zugang hatten. Die unterschiedliche Zugänglichkeit verschiedener Teile des Heiligtums für verschiedene Gruppen von Eingeweihten ähnelt dem Jahwetempel in Jerusalem.
Im Anaktoron führte der Hierophant nachts seine Kulthandlungen durch während die Kultgemeinde bei Fackelschein Dinge sahen, welche Angst und Schrecken verbreiteten. Während dieser Zeremonie öffnete sich plötzlich das Anaktoron; ein Lichtschein wurde sichtbar und Kore wurde durch das Schlagen eines Gongs aus der Unterwelt ins Licht gerufen. Der Hierophant verkündete: „Die Herrin hat einen heiligen Knaben geboren: Brimo den Brimos“. In absoluter Stille wurde eine Kornähre geschnitten; wer Brimo ist und wer Brimos bleibt nur den Eingeweihten bekannt. Schrecken weichen nun Hoffnung; Erlösung steht bevor.
Nun wird gefeiert – während der ganzen Nacht wird gesungen, getanzt sowie gegessen und getrunken auf dem Platz vor der großen Halle. Ausgelassene Fröhlichkeit ist ein gemeinsames Merkmal aller Mysterienkulte; jedoch erhielt sie in Eleusis besonders viel Raum. Die Neueingeweihten opferten einen Stier dessen Fleisch beim gemeinsamen Mahl verzehrt wurde; zwei Gefäße (plemochóai) wurden gefüllt und ausgegossen; während sie gen Himmel schauten riefen sie „Regen“ und senkten anschließend ihre Augen um „empfange“ zu rufen (auf Griechisch: hýe – kýe). Am Morgen brachen die Teilnehmer wieder in ihre Heimat auf.
Offensichtlich weckte diese Zeremonie bei Erstteilnehmern gemischte Emotionen: Eleusis sei „zugleich das Schauerlichste und das Lichteste von allem Göttlichen“, schrieb Aelius Aristides; Schrecken und Hoffnung seien eng miteinander verbunden gewesen. Die Initiation glich einer Heilungserfahrung – eine „Gegenwart von Wohlbefinden sowie Lösung und Befreiung von Unbehagen aus der Vergangenheit“. Auch Plutarch beschreibt diese Erfahrung als Mischung aus „Verstörung und Bedrücktheit“, gepaart mit seliger Hoffnung; somit stellte dieser Ritus auch eine symbolische Darstellung von Tod und Wiedergeburt dar – eine Rettung aus einem freiwillig gewählten simulierten Tod.
Die Mysterienkulte wie jener von Eleusis unterscheiden sich deutlich von anderen polytheistischen Kulte der Antike durch ihre Exklusivität: Die Eingeweihten betrachteten sich als Gemeinschaft mit einem höheren Bewusstseinsniveau aufgrund ihrer Initiation in die Geheimnisse des Kultes im Vergleich zu anderen Menschen. Im Gegensatz zu anderen Tempeln verfügte das Heiligtum in Eleusis über hauptamtliche Priester aus bestimmten Familien: Die Hierophanten stammten von den Eumolpiden ab – einer mythischen Familie eines thrakischen Königs –, während zwei rangniedrigere Priester den Kerykiden entstammten. Ihre Autorität bezogen Eumolpiden und Kerykiden aus ihrem langjährigen Wissen im Priestertum.
Identitätsstiftend für diese Gemeinschaft war nicht nur das gemeinsam geteilte religiöse Wissen sondern auch das gemeinsame Essen beim Fastenbrechen; das griechische Wort órgia bezeichnet solche gemeinschaftsstiftenden Festivitäten am Rande von Mysterienkulten wie dem von Eleusis. Diese moderne Bedeutung lässt erahnen mit welchem Missverständnis Unkundige – insbesondere christliche Beobachter – auf die Geschehnisse hinter den Mauern dieser geschützten Heiligtümer blickten: Gemeinsames Essen stärkt generell das Gefühl zur Zusammengehörigkeit sowie gegenseitiges Vertrauen; daher gibt es auch in monotheistischen Religionen zahlreiche Rituale rund um gemeinschaftliches Essen – sei es das Abendmahl in christlichen Kirchen oder das Fastenbrechen im Islam.
Die Aussicht auf eine positive Transformation innerhalb der eleusinischen Gemeinschaft blieb selbst zur Zeit des römischen Kaiserreiches für Angehörige höherer Schichten attraktiv: Intellektuelle wie Plutarch oder Aelius Aristides beschäftigten sich intensiv mit diesem Kult; Claudius plante sogar eine Verlagerung nach Rom! Für viele Römer könnte es zudem wichtig gewesen sein ihre Zugehörigkeit zur griechischen Kulturgemeinschaft zu legitimieren; so ließen sich auch mehrere römische Kaiser initiieren – Augustus 31 v.Chr., Hadrian 129 n.Chr., Lucius Verus 162 n.Chr., Commodus 176 n.Chr., Mark Aurel ebenfalls 176 n.Chr., schließlich Julian Apostata 362 n.Chr.. Mark Aurel zeigte sich zudem als großer Wohltäter für diese Mysterien: Nachdem Sarmaten 170 n.Chr.den Heiligen Bezirk geplündert hatten ließ er Tempel wiederaufbauen.