Geschichte: Der Oberst der Staatssicherheit auf der Flucht

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Der höchste Offizier des Geheimdienstes, Alexander Schalck-Golodkowski, befindet sich gemeinsam mit seiner Ehefrau Sigrid in der Rückbank eines russischen Limousinenfahrzeugs. Es ist eine frostige, gnadenlose Nacht. Vor dem Grenzübergang an der Invalidenstraße hat sich ein dichter Stau gebildet. Obwohl die Mauer seit mehr als drei Wochen faktisch offensteht, kontrollieren die DDR-Grenzbeamten noch immer die Ausreise. Schalck gilt als eine der wichtigsten Figuren des Systems, ein Oberst der Staatssicherheit, der im Unterschied zu gewöhnlichen DDR-Bürgern jederzeit in den Westen reisen kann. Erst am Morgen war er nach Bonn geflogen, um mit dem westdeutschen Innenminister Wolfgang Schäuble Verhandlungen zu führen. Doch in dieser Nacht steht er wie alle anderen DDR-Bürger im Stau an der Invalidenstraße und wartet auf seine Abfertigung. Seine Freunde im Zentralkomitee der SED fürchten, dass er sich von ihnen abgewandt hat.

Geheimnisse und Einfluss im DDR-System

Er will keine Aufmerksamkeit erregen, wenn er seine Heimat, die DDR, für immer verlässt. Er kennt viele Geheimnisse. Die Nachricht von seiner Flucht würde das kommunistische Regime weiter destabilisieren. Über dreißig Jahre lang hat Schalck für seine Partei Geld beschafft, das sie dringend braucht, um ihre Macht zu sichern. Während die DDR auf den öffentlichen Veranstaltungen der FDJ und der SED den Eindruck von Ordnung, Organisation und Berechenbarkeit vermittelt, herrscht im Verborgenen das Chaos. Es mangelt an Rohstoffen, Autoreifen, Schrauben. Die Führung muss ständig improvisieren und Lücken füllen.

Ideologische Hintergründe und wirtschaftliche Notwendigkeiten

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte die sowjetische Regierung erreichen, dass die Staaten des kommunistischen Blocks sich selbst versorgen: Die Sowjetunion sollte Energie liefern, während die DDR etwa Waggons und Schiffe produzierte – ein Tauschhandel, der ohne Geld funktionieren sollte. Doch die DDR benötigt Stahl für den Schiffsbau, doch in der eigenen Produktion gibt es zu wenig davon. Das kleine Land muss Stahl auf dem Weltmarkt kaufen, wo in US-Dollar abgerechnet wird. Die DDR hat aber kaum Westgeld, nur wenige Devisen.

Schalcks geheime Wirtschaftspolitik

Diese beschafft eine spezielle Abteilung, die Schalck 1967 gründete: die Kommerzielle Koordinierung, kurz KoKo. Die KoKo verkauft im Westen alles, was die DDR an Waren hergibt: Antiquitäten, Mastschweine, billige Möbel. Oft verkauft sie die Güter unter den Herstellungskosten, also mit Verlust, nur um an Westdevisen zu kommen. Es ist fast so, als ob der Schwarzmarkt nach dem Krieg nie aufgehört hätte, nur sind jetzt nicht Zigaretten, Schnaps und Konserven gefragt, sondern D-Mark und US-Dollar.

Schalcks Jugend und der Mangel

Schalck war erst zwölf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Als Jugendlicher lernte er den Mangel kennen und verstand, dass man improvisieren muss, um lebenswichtige Waren zu beschaffen. Sein Vater, ein staatenloser Immigrant aus Russland, kam nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Er kämpfte in der Wehrmacht, kehrte nach dem Krieg in die Hauptstadt zurück und musste sich bei der sowjetischen Kommandantur melden – danach tauchte er nie wieder auf.

Aufwachsen im geteilten Berlin

Alexander wuchs als Halbwaise im Ost-Berliner Stadtteil Treptow auf. Er passte sich den neuen Umständen an, absolvierte eine Lehre in den Elektro-Apparate-Werken Teltow, die von den Sowjets enteignet und übernommen worden waren. Als Mitglied der Freien Deutschen Jugend verteilte er Flugblätter der SED in West-Berlin. Seine politische Laufbahn begann.

Karriere im DDR-Staat

Im Juni 1953 verteidigte er mit Panzern der sowjetischen Armee das Haus der Ministerien gegen Arbeiterproteste. Er studierte Außenwirtschaftshandel, promovierte und arbeitete im Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel. Hier fand er seine große Aufgabe: die Beschaffung von Devisen. Er stieg zum Staatssekretär auf, war aber in Wirklichkeit mächtiger als viele Minister der DDR. Schalck organisierte nicht nur Westgeld, sondern auch Westtechnologie, die er wiederum aus den Devisenerlösen bezahlte.

Technologie- und Rohstoffbeschaffung im Embargo

Das kleine Land benötigte nicht nur Rohstoffe, sondern auch moderne Maschinen, später Computer und Speicherchips. Die NATO-Embargos sollten eigentlich verhindern, dass Hightech-Güter in die DDR gelangen. Der offizielle Standpunkt der westlichen Staaten war, den Export solcher Technologien in die DDR zu unterbinden, weil sie befürchteten, dass sie für Waffentechnik genutzt werden könnten. Schalck umging diese Beschränkungen mit Hilfe westdeutscher Firmen.

Der geheime Handel zwischen Ost und West

Der Handel zwischen den beiden deutschen Staaten wurde seit dem Mauerbau zwar komplizierter, aber für viele westdeutsche Unternehmen auch profitabler. Darauf setzte Schalck. Er wollte nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt, welche Rolle er wirklich spielte: Zum einen half er Firmen in der Bundesrepublik, deutsche Gesetze zu umgehen, zum anderen zeigte die Existenz seiner Abteilung KoKo, dass das System der DDR seine eigenen Grundlagen nicht tragen konnte. Schalck musste ein Phantom bleiben, seine Arbeit geheim.

Öffentliche Präsenz vor dem Fall

Bis Oktober 1989. Nach dem Sturz Honeckers trat Schalck erstmals öffentlich auf. Er war Gast in einer DDR-Talkshow zum Thema „Leistungsgesellschaft DDR“. Er schien sich für ein höheres Amt im Staat zu positionieren und nutzte die Gelegenheit, um sein Gesicht zu zeigen, ohne mit der SED in Verbindung gebracht zu werden. Was er wirklich für die DDR getan hatte, verriet er nicht.

Der Tag der Demonstrationen

Kurz darauf, am 4. November 1989, war er wie fast eine Million andere DDR-Bürger auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin. Die Menschen demonstrierten gegen die SED und für freie Wahlen, Presse- und Reisefreiheit. Schalck wurde von einem ostdeutschen Fernsehteam entdeckt und befragt. Er gab sich weiterhin geheimnisvoll.

Scheunerts Blick auf den Wandel

Auch Detlef Scheunert, persönlicher Referent des Ministers für Schwermaschinenbau, war unter den Demonstranten. Obwohl er für den DDR-Staat arbeitete, kannte er nur Gerüchte über die KoKo. Scheunert stand vor einer Veränderung, spürte den Umbruch.

Herkunft und Jugend in Sachsen

Der 29-jährige, groß gewachsene Mann mit dunklem Haar, Brille und Schnauzbart, hatte ein gewinnendes Lächeln, das er brauchte, um seine Freunde zu versöhnen, wenn er mal wieder laut seine Meinung sagte. In Gesprächen mit Bekannten in Friedrichshain spürte er, dass die Menschen die SED endgültig satt hatten und sich eine andere DDR wünschten. Durch seine Arbeit im Ministerium war ihm die Lage der DDR-Wirtschaft bekannt, und er wusste, dass sich etwas ändern musste.

Leben auf dem Hof und die Nachkriegszeit

Er kam aus einem kleinen Ort in Sachsen, im Dreieck Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt. Seine Kindheit verbrachte er auf einem Bauernhof. Nach den Ermordungen sächsischer Landbesitzer durch die Sowjets 1945 standen viele Höfe leer, das Land lag brach. Sein Vater pachtete nach dem Krieg mehrere Höfe und Äcker hinzu.

Aufwachsen bei der Junkerfamilie

Scheunert wuchs auf einem Gutshof einer Junkerfamilie auf, deren Besitzer von den Sowjets erschossen wurden. Die Witwe konnte den Hof nicht mehr allein bewirtschaften. Unter der Bedingung, dass sie im Gutshaus bleiben durfte, pachtete Scheuncks Vater den Hof. Sein Vater, ein kräftiger Mann, Veteran des Ersten Weltkriegs, streng und ehrgeizig, überließ die Erziehung der drei Söhne seiner Frau.

Einfluss der Familie und die politische Welt

Doch vor allem die Witwe prägte den jungen Scheunert. Sie konnte als Pensionärin ohne Hindernisse in den Westen reisen, auch nach dem Bau der Mauer. Oft brachte sie Bücher und Zeitschriften aus Hamburg mit. Obwohl er in einer einsamen Gegend lebte, war er besser informiert als viele in den Städten. Die Witwe vermittelte ihm die Welt der Unternehmerfamilie und des Privateigentums, erzählte von Freiheit und Verantwortung.

Leben auf dem Hof und die politische Repression

Das Haus war groß, mit hohen Decken, Stuck und Holzdielen, aber es verfiel zunehmend. Neben dem Gutshaus befand sich ein Schweinestall, und der Gestank des Misthaufens lag in der Luft. Auch politische Dissidenten aus Ost-Berlin, die die Partei regelmäßig aufs Land schickte, um sie umzuerziehen, kamen mit Büchern zu Besuch. Der junge Scheunert lernte vietnamesische Studenten, Literaten und Professoren kennen, die mit vielen Büchern auf dem Hof standen.

Abgeschirmt vom Alltag und erste Eindrücke

Die Mauer hatte er nur vom Hörensagen gehört, sie war nie sichtbar für ihn. Der Hof schirmte ihn ab; er war weit entfernt vom nächsten Ort, Döbeln. Wenn die Besucher weg waren, wurde die Einsamkeit zur Qual. Sein älterer Bruder war zehn Jahre älter und kaum zu Hause, sein mittlerer Bruder war als Kind in einem Teich auf dem Hof ertrunken. Nun wurde besonders auf ihn Acht gegeben.

Sein Leben auf dem Hof und die Erwartungen

Er sollte nicht in der großen Scheune spielen, weil er im frisch gemähten Weizen ersticken könnte. Meist war er allein, umgeben von 150 Tieren. Im Kindergarten bekam er den Spitznamen „der Boss“, wegen seiner dominanten Art oder weil sein Vater die wichtigsten Geschäfte im Dorf führte. Sein Vater war in der Gegend bekannt, weil er viel Land gepachtet hatte und Ende der fünfziger Jahre gut verdiente.

Der Druck der Kollektivierung

Er wurde ständig von der SED gedrängt, seinen Grund und Boden freiwillig abzugeben und sich kollektivieren zu lassen. Scheunert erinnert sich an Geschichten von Lastwagen, voll beladen mit Männern, die rote Fahnen schwenkten.

Enteignung und die Umwandlung der Höfe in LPG

Der Vater von Scheunert weigert sich hartnäckig, wie viele andere Bauern auch, sein Land abzugeben. Vergeblich. 1960 entscheidet die SED, landwirtschaftliche Güter per Gesetz zu enteignen. Aus Scheunerts Höfen werden Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG). Der Vater muss wieder selbst Schweineställe ausmisten und Kühe melken. Seine ehemaligen Angestellten, die proletarisierten Bauern, lernen schnell, dass es kein Privateigentum mehr gibt: Produktionsmittel dürfen nur noch der Staat besitzen.

Der Verlust des Privateigentums und die Reaktion der Kinder

Detlefs Schulkameraden rupfen das Obst vom Familiengrundstück. »Ich habe dann gefragt: ‚Warum tut ihr das? Das ist doch gestohlen, das ist doch gar nicht euer Eigentum. Ihr könnt doch nicht einfach kommen und das wegnehmen.‘« Er erinnert sich: »Dann kriegte ich ein Grinsen zur Antwort: ‚Die Zeiten sind vorbei, das gehört jetzt allen.‘« Für den kleinen Jungen wirkt dieses freigegebene Eigentum und das Nicht-Mehr-Interessieren an Diebstahl bedrohlich.

Die Haltung der Familie gegenüber der Enteignung

Die Familie Scheunert passt sich auch nach der Enteignung nicht an. Da der Großvater in russischer Kriegsgefangenschaft war, ist die Mutter eine leidenschaftliche Kommunistenhasserin. Beim Anblick roter Bettwäsche, der Farbe der Kommunisten, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Die Kinder werden in einem weit entfernten Kloster geboren, weil die Krankenhäuser in der Nähe von den neuen Machthabern, den Kommunisten, kontrolliert werden.

Der Status des jungen Scheunert trotz Enteignung

Obwohl sie enteignet sind, gilt der junge Scheunert weiterhin als Sohn eines „Großgrundbesitzers“. Die lokale Partei will ihn vom Gymnasium ausschließen, doch der Schulrat, mit dem sein Vater in Stalingrad eingekesselt war, zählt mehr als die Partei. So darf Detlef das Abitur machen und studiert dann halbherzig Maschinenbau in Dresden – „denn zwei mal zwei ist auch im Sozialismus vier“.

Militärdienst und Fluchtpläne

Kurz vor seinem 23. Geburtstag, mit Diplom in der Tasche, muss er zur Armee. Er soll an der Grenze Wache schieben, doch nur durch Glück entkommt er diesem Dienst. Stattdessen landet er in Leipzig. Das Leben ist geprägt von Improvisation, Willkür und Zufall. Er verliebt sich in eine Berlinerin und will nun unbedingt nach Berlin. Früher träumte er von New York und London, doch in Ost-Berlin ist er zumindest in der Nähe des Westens.

Das Gefühl des Außenseiters in der Armee

In der Armee spürt er, was er überall spürt: Er ist ein Außenseiter. Ständig bekommt er Ärger, ohne genau zu wissen warum. Ein Offizier versucht, ihn zu rekrutieren: Ob er nicht Karriere in der Armee oder im Staat machen wolle? Er sei doch intelligent, ehrgeizig, begabt – ein Macher-Typ. Will er dazugehören? Unabhängig vom Vater will Scheunert sich positionieren und Teil des Systems werden.

Die Erkenntnis über die wahre Rolle des Staates

Der Wandel wird ihm erst drei Tage vor dem Mauerfall klar. Das Magazin „Der Spiegel“ erwähnt den Namen Schalck in einem Titelstory-Abschnitt über die DDR und deren Überlebensstrategien. Zunächst bleibt die Berichterstattung vage, doch zwei Wochen später folgt eine ausführlichere Hintergrundgeschichte. Es scheint, als wüsste das Magazin fast alles: Schalcks Rolle, seine Adresse, Tarnfirmen in Deutschland und Liechtenstein, sogar Gerüchte, dass Mitarbeiter in Westdeutschland ermordet wurden.

Die Undercover-Arbeit des Bundesnachrichtendienstes

Nur der BND, der Auslandsgeheimdienst, weiß zu diesem Zeitpunkt mehr. Seit den 1970er Jahren hat er die KoKo-Abteilung unterwandert, rekrutiert Tarnfirmen in Westdeutschland und lässt sogar exklusive Informationen durchscheinen. Viele der Details stammen aus den Berichten des BND, die im „Spiegel“-Artikel ungefiltert auftauchen.

Schalcks dunkle Geschäfte und die Enthüllungen

Scheunert liest den Artikel und ist schockiert. Er erfährt, dass Schalck nicht nur dem Staat dient, sondern auch Luxusgüter und Schmuck für SED-Funktionäre sowie deren Familien besorgt hat – bezahlt aus den Erlösen im Westen. Besonders empört ihn, dass Schalck Eigentum geflüchteter DDR-Bürger zu Geld macht. Die Berichte über Schalck verändern die Diskussionen in den Nachbarschaften: Die Leute haben genug und wollen nur noch weg, in den Westen.

Der Wunsch nach Flucht und die politische Lage

Auch Scheunert denkt an Ausreise, will seiner Familie aber nichts zumuten. Er glaubt, in einem reformierten Staat eine Rolle spielen zu können, weil er das nötige Wissen besitzt. Doch seit dem Mauerfall verliert die Partei täglich an Macht. Die Menschen verlieren die Angst vor dem Staat.

Das Waffenlager in Rostock und der Sturz des Systems

Am 2. Dezember stürmen Bürger in Rostock eine Lagerhalle der KoKo-Firma IMES. Sie entdecken Waffen, Munitionskisten und Sprengstoff. Hat die DDR Waffen im großen Stil gehandelt? Wer wusste davon in der SED? Kurz darauf setzt sich Schalck nach West-Berlin ab. Die Grenzer an der Invalidenstraße lassen ihn passieren. Die Mauer ist weg, Schalck auch. Zurück bleiben ein unsicherer Staatsapparat und Scheunert mit Familie.

Das Ende einer Ära und die gesellschaftliche Umbruchsphase

Ein Kollege fragt: „Und, haust du auch ab? Denk darüber nach!“ Doch er glaubt, nichts zu verbergen. Die Bürgerrechtler zerstreiten sich über die nächsten Schritte. Die Menschen skandieren „Wir sind ein Volk“, und die DDR gerät ins Wanken.

Der Handel mit Westwaren und das Ende des Staates

Polnische Händler strömen nach Ost-Berlin, um Westwaren zu verkaufen. Ostdeutsche bringen ihr Geld nach West-Berlin oder arbeiten schwarz. Westdeutsche lassen sich im Osten die Haare schneiden, weil sie kein Westgeld haben. Die alten Wirtschaftsstrukturen zerfallen, und die Grenzen zwischen Ost und West verschwimmen. Der neue Ministerpräsident, Hans Modrow, kündigt Maßnahmen gegen den Schmuggel an, doch die alte Angst vor dem Staat ist verflogen. Die Menschen handeln und verkaufen Ost-Waren, wie es Schalck einst im Auftrag der SED getan hat.