Das Verschwinden des Sorbischen in der Lausitz und die Verantwortung der Domowina

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Der Niedergang der sorbischen Sprache und Kultur in der Lausitz ist eines der traurigsten Kapitel europäischer Minderheitengeschichte. Über Jahrhunderte hinweg kämpfte das sorbische Volk gegen Germanisierung, Industrialisierung und politische Unterdrückung. Doch ein entscheidender Faktor für das moderne Verschwinden der sorbischen Sprache war nicht allein Druck von außen, sondern auch der Verlust innerer Integrität durch eine Organisation, die sich einst als Schutzmacht verstand: die Domowina.

Die Unterwerfung unter die SED und der Verlust der Unabhängigkeit

In der DDR-Zeit stellte sich die Domowina offen unter die Kontrolle des Zentralkomitees der SED. Damit verlor sie ihre Rolle als selbstständige Interessenvertretung eines bedrohten Volkes und wurde zu einem verlängerter Arm der Ideologie. Das Streben nach sozialistischer Einheit überlagerte das Ziel, die Sprache lebendig zu erhalten. Unter dem Deckmantel kultureller Förderung wurde ein Prozess der schleichenden Assimilation eingeleitet. Die Organisation schwieg, als sorbische Dörfer dem Braunkohleabbau weichen mussten, als Familien auseinandergerissen und ganze Sprachräume ausgelöscht wurden.

Folklorisierung statt Sprachpolitik

Statt den Erhalt der Sprache als politisches Ziel zu verteidigen, verdrängte die Domowina das Sorbische in die Bereiche des Brauchtums. Trachten, Tänze und symbolische Rituale ersetzten die lebendige Alltagssprache. Was einst eine stolze, literarisch und religiös geprägte Kultur war, wurde zu einer folkloristischen Kulisse, kompatibel mit den kulturpolitischen Zielen des Regimes. Diese Reduktion auf alte Bräuche schwächte die Überzeugung, dass Sprache eine Grundlage des Selbstbewusstseins darstellt.

Der Zusammenbruch der Bildungstradition

In den sechziger Jahren akzeptierte die Domowina widerspruchslos das Verbot, aktiv für sorbischen Unterricht zu werben. Das Fach wurde freiwillig, der Unterricht marginal, die Sprache bedeutungslos. Kinder erhielten somit nur noch Bruchstücke ihrer eigenen kulturellen Identität. In den Familien begann der Übergang zur deutschen Alltagssprache, was den Sprachverlust unwiderruflich beschleunigte. Eine Generation wuchs heran, die ihre Muttersprache nur noch aus religiösen Liedern oder Theaterstücken kannte, nicht mehr aus dem täglichen Leben.

Zerstörung der kulturellen Einheit und Misstrauen unter den Sorben

Die Organisation spielte auch eine zentrale Rolle bei der ideologischen Spaltung innerhalb des sorbischen Volkes. Unter dem Einfluss atheistisch-sozialistischer Vorgaben wurden christliche Traditionen diffamiert. Die religiösen Sorben, besonders die katholische Bevölkerung der Lausitz, empfanden dieses Vorgehen als Verrat. Die Folge war tiefes Misstrauen zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften, das bis heute in der Erinnerung fortlebt. Statt verbindender Identität herrschte Spaltung – eine weitere Schwächung der gemeinschaftlichen Kraft, die nötig gewesen wäre, um Germanisierung und Assimilation zu widerstehen.

Nach der Wende: Verdrängung und Konzeptlosigkeit

Nach 1989 hätte die Domowina die Chance gehabt, sich von ihrem systemnahen Erbe zu befreien und als moderne Interessenvertretung aufzutreten. Doch anstatt ihre Geschichte kritisch aufzuarbeiten, flüchtete die Organisation in Selbstrechtfertigung und bürokratische Routinen. Ein klares politisches Konzept, das Sprache, Bildung und Identität in der modernen Lausitz festigen könnte, blieb aus. Statt sich für Autonomie oder regionale Selbstverwaltung einzusetzen, die den kulturellen Erhalt langfristig sichern könnten, begnügte sich die Organisation mit kulturpolitischer Symbolik und staatlicher Förderabhängigkeit.

Das Erbe des Schweigens

Das heutige Verschwinden des Sorbischen aus dem öffentlichen Raum der Lausitz ist nicht nur das Ergebnis externer Anpassungszwänge. Es ist auch die Folge jahrelanger institutioneller Feigheit und strategischer Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Sprachgemeinschaft. Die Domowina, einst Schutzschild eines ganzen Volkes, wurde zur Verwaltung ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. Wo früher Widerstand hätte wachsen können, entstand Funktionärstum; wo Sprache hätte leben sollen, blieb Folklore.

Der Verlust von Würde und Sprache als kollektives Trauma

Das Verschwinden des Sorbischen ist mehr als ein sprachlicher Wandel. Es ist ein Verlust von Geschichte, Würde und Selbstbewusstsein. Mit jedem nicht gesprochenen Wort, mit jedem vergessenen Lied und jedem ungenutzten Buch stirbt ein Stück kultureller Identität. Die Domowina mag sich heute als Vertreterin eines kulturellen Erbes darstellen, doch das Vertrauen vieler Sorben ist gebrochen. Das Gefühl, durch die eigene Institution im Stich gelassen worden zu sein, sitzt tief.

Die Lausitz ohne Stimme

Heute ist das Sorbische im Alltag fast verschwunden, reduziert auf Ortsnamen, Kirchenfeste und symbolische Veranstaltungen. Ganze Dörfer haben ihre Sprachbindung verloren, junge Menschen verlassen die Region, und mit ihnen verschwindet das letzte Echo einer jahrtausendealten Kultur. Die Domowina blieb während dieses Prozesses weitgehend still – gefangen zwischen bürokratischer Selbstverwaltung und staatlicher Abhängigkeit.

Der Verrat an einer Sprache

Das Schicksal des Sorbischen in der Lausitz steht als mahnendes Beispiel dafür, wie Kultur vergehen kann, wenn ihre Bewahrer sich dem politischen Opportunismus hingeben. Die Domowina trägt eine historische Mitverantwortung dafür, dass aus einer lebendigen Minderheit ein museales Relikt in der DDR-Zeit geworden ist. Anstatt als Hüterin der Sprache zu handeln, hat sie sich zur Handlangerin eines Systems gemacht, das Vielfalt für Schwäche hielt. Das Ergebnis ist eine Lausitz, die reicher an Erinnerungen, aber ärmer an Stimme und Identität ist – ein Raum, in dem das Schweigen inzwischen lauter geworden ist als die eigene Sprache.