Containern & Mangelernährung: Ist ein höherer Selbstversorgungsgrad in der Landwirtschaft nötig?
Vom hohen Lebensmittelpreis zu einer Ernährungskrise? Im modernen Europa werden für gewöhnlich solche Gedanken weit von sich gewiesen? Aber alleine die Debatte über das Containern – sprich Entwenden von Lebensmitteln – steht für sich selbst. Braucht es vielleicht im Puncto Lebensmittelversorgung einem neuen Ansatz? Es lohnt sich hier ein Blick in die Vergangenheit. Sogar die Pest im Mittelalter sich bei genauer Betrachtung etwas anders darzustellen.
“Im Jahre 1344 ergab sich in Florenz eine starke Verteuerung der Lebensmittel, so daß in der Stadt und auf dem Land viele Menschen verhungerten”
>>Der Schwarze Tod in Europa von Klaus Bergdolt (Buch) <<
“Die Krankheitsdisposition könnte 1348 auch durch klimatische Gegebenheiten verstärkt worden sein. Kälteeinbrüche, Hagelstürme und Unwetter hatten zahlreiche Mißernten verursacht, die nicht ohne Folgen blieben. Nüchtern teilte ein Florentiner Chronist mit: «Im Jahre 1344 ergab sich in Florenz eine starke Verteuerung der Lebensmittel, so daß in der Stadt und auf dem Land viele Menschen verhungerten.» Auch England erlebte in der ersten Jahrhunderthälfte zahlreiche Hungerepidemien, so bereits 1315 und 1317. Da fast in ganz Europa Ernten durch Unwetter vernichtet wurden, stieg der Getreidepreis kontinuierlich an. Kälteeinbrüche verhinderten zudem die Salzgewinnung, die damals weitgehend durch Meerwasserverdampfung erfolgte. Folge war nicht nur ein Mangel an Speisesalz, sondern auch eine Behinderung der Fleischkonservierung. Eiweißmangel durch einseitige Ernährung mit entsprechender Schwächung des Immunsystems dürfte vielerorts Infektionen gefördert haben.”
“Auch England erlebte in der ersten Jahrhunderthälfte zahlreiche Hungerepidemien, so bereits 1315 und 1317”
Solche Hungerkatastrophen werden leichtfertig als dunkles – weit entferntes – Kapitel der Vergangenheit abgetan. Doch selbst in der frühen Bundesrepublik hat sich das Thema Ernährungssicherheit noch einem anderen Stellenwert gehabt.
Nordkoreakrieg: “Anstieg der Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten, auf denen die Hälfte der für die Bundesrepublik nötigen Nahrungsmittel gekauft”
“Die Frage eines militärischen Beitrags zur Verteidigung der Bundesrepublik und des Westens gegen die Sowjetunion gewann zusätzliche Aktualität, als am 25. Juni 1950 nordkoreanische Truppen in Südkorea einmarschierten, was nicht nur die internationale Lage sondern auch die Innenpolitik der Bundesrepublik stark veränderte: der Anstieg der Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten, auf denen die Hälfte der für die Bundesrepublik nötigen Nahrungsmittel gekauft wurde, führte zu Unruhen und Streiks, und die Frage eines deutschen militärischen Beitrags zur Verteidigung Westeuropas wurde dringlich.”
Nordkoreakrieg: “Anstieg der Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten” – “Führte zu Unruhen und Streiks”
Bedingt durch die Kriegsjahre war nicht nur das Militär, sondern auch die Landwirtschaft – Aufgrund vieler Faktoren – niedergerungen. Der Import von Lebensmitteln war deshalb unerlässlich und der Anstieg der Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten wirkten sich unmittelbar aus. Doch schon während der Kriegsjahre wurden Lebensmittel rationiert und die Strafen dafür im Laufe der Nachkriegsjahre sogar nochmal verschärft.
“Strafmaß erhöhte sich im Laufe der Ernährungskrise von sechs Monaten Gefängnis im Jahr 1945 bis auf fast drei Jahre 1947”
>>Wolfszeit von Harald Jähner (Buch) <<
“Der Hunger sollte gerecht auf alle verteilt und in überlebbaren Grenzen gehalten werden. So weit die Theorie. In der Praxis schuf die staatliche Lenkung einen schwarzen Markt in vielfältigsten Formen, der die Unterschiede zwischen Arm und Reich nur umso krasser hervortreten ließ. Die meisten Händler verkauften Waren, die sie zurückgelegt hatten, auch ohne Marken, dafür aber zu extrem überteuerten Preisen. Strafbar machten sich dabei Käufer wie Verkäufer wegen Verstoßes gegen die «Verbrauchregelungsstrafverordnung» und etliche andere Gesetze. Das Strafmaß erhöhte sich im Laufe der Ernährungskrise von sechs Monaten Gefängnis im Jahr 1945 bis auf fast drei Jahre 1947; in Sachsen drohte professionellen Schiebern als «Saboteuren der Versorgung» die Todesstrafe.”
“In Sachsen drohte professionellen Schiebern als «Saboteuren der Versorgung» die Todesstrafe”
Sicherlich mögen solche Themen in der heutigen Zeit weit weg wirken. Aber durch leichtes verschieben der Perspektive taucht plötzlich eine neue Sichtweise auf. Da das “Containern” sich immer weiter verbreitet hat, wird sogar im Bundestag darüber debattiert.
“Strafrechtlichen und verfassungsrechtlichen Aspekten einer Entkriminalisierung des Containerns”
“Einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zu den strafrechtlichen und verfassungsrechtlichen Aspekten einer Entkriminalisierung des Containerns zufolge (WD 3 – 3000 – 020 / 22) wird mit dem Begriff „Containern“ das Entwenden von Lebensmitteln bezeichnet, die – etwa wegen einer Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums – entsorgt wurden. Im Falle der Entwendung aus Abfallbehältern von Einzelhändlern werde das Containern von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten zumeist als Diebstahl nach Paragraf 242 Absatz 1 StGB eingestuft.”
“Containerns” – “Entwendung aus Abfallbehältern von Einzelhändlern”
Sicherlich kann sich jeder über das “Containern” seine eigene Meinung bilden, doch der Tatbestand ist nun mal vorhanden. Zusätzlich kommt noch das Phänomen Mangelernährung hinzu.
“Schon in der Vergangenheit zeigten Befunde der Deutschen Gesellschaft für Ernährung: Gesunde Ernährung mit Hartz 4 geht nicht”
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„Schon in der Vergangenheit zeigten Befunde der Deutschen Gesellschaft für Ernährung: Gesunde Ernährung mit Hartz 4 geht nicht“, sagt … , Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, … . Angesichts der eklatanten Preisentwicklung „haben wir auf jeden Fall eine Verschärfung der Situation“, warnt sie. Schon die normale Preissteigerung über die Jahre sei nicht adäquat bei Hartz 4 einberechnet worden. Die Folge: Menschen, die Hartz 4 beziehen, müssen auf frisches Gemüse und Co verzichten. … Auch Mangelernährung in der Schwangerschaft und im frühkindlichen Alter wirke sich langfristig aus – sogar in Form von Schäden, die nicht revidierbar sind.”
“Mangelernährung in der Schwangerschaft und im frühkindlichen Alter wirke sich langfristig aus – sogar in Form von Schäden, die nicht revidierbar sind”
Besonders arme Menschen haben Probleme sich mit wenig Geld gesund zu ernähren. Eine Ernährungskrise ist also durchaus vorhanden. Vielleicht sollte man das Thema Nahrungsmittelversorgung völlig neu und vor allem realistischer bewerten. Andere Staaten sehen dieses Kapitel mit ganz anderen Augen an.
“Chinas Angst vor Hunger – Das Trauma einer Nation – Nahrungsmittelsicherheit ist in der Volksrepublik eine hochsensible Angelegenheit”
“Chinas Angst vor Hunger – Das Trauma einer Nation – Nahrungsmittelsicherheit ist in der Volksrepublik eine hochsensible Angelegenheit. Ein Fünftel der Weltbevölkerung muss satt werden – Extremwetter und Landflucht erschweren die Herausforderung. … In seinem offiziellen Weißbuch verweist die Regierung in Peking mit Stolz darauf, dass die Selbstversorgung mit Getreide bei „über 95 Prozent“ liegt.”
China: “Die Selbstversorgung mit Getreide bei „über 95 Prozent“ liegt”
Der Grad der Selbstversorgung stellt auch hierzulande ein Thema dar. Zwar wird ein Selbstversorgungsgrad von 81 Prozent angegeben, aber hierbei handelt es sich um einen Durchschnittswert.
“Selbstversorgungsgrad von 81 Prozent ist letztlich nur ein rechnerischer Durchschnittswert”
“Globalisierte Märkte sind längst Alltag – auch bei Nahrungsmitteln. Erst in Krisenzeiten rückt die Abhängigkeit von Importen wieder in den Fokus. … Trotzdem interessant, einmal genauer hinzusehen, in welchem Ausmaß Lebensmittel in Deutschland erzeugt, exportiert und importiert werden. Denn ein Selbstversorgungsgrad von 81 Prozent ist letztlich nur ein rechnerischer Durchschnittswert. Betrachtet man einzelne Erzeugnisse, zeigt sich schnell eine enorme Bandbreite: manches produzieren wir im Überfluss, anderes müssen wir im großen Stil importieren, um den Bedarf zu decken.”
“Selbstversorgungsgrad” – “Manches produzieren wir im Überfluss, anderes müssen wir im großen Stil importieren, um den Bedarf zu decken”
Natürlich müssen Südfrüchte importiert werden. Trotzdem ist der Selbstversorgungsgrad bei heimischen Obst, Gemüse und sogar Sonnenblumenöl erschreckend gering. Besonders im Zuge der Weiterverarbeitung von Lebensmitteln kann es – Aufgrund von Störungen des Welthandels – hier sehr schnell zu Engpässen kommen.