Antike Geschichte: Marbod und das oft übersehene Markomannenreich

Zur Zeit der Varusschlacht wird oft ein weiterer bedeutender Widersacher des Römischen Reiches übersehen. In dieser Epoche tritt einer der zentralen Gegenspieler der Römer – gleichzeitig auch ein Cherusker – in Erscheinung. Es handelt sich um den Markomanen Marbod. Ähnlich wie Arminius und einige andere germanische Adelige war er in seiner Jugend nach Rom gereist. Durch diese Erfahrungen hatte er die Gelegenheit, militärische, politische und administrative Kenntnisse zu erwerben. Auch das römische Bürgerrecht sowie verschiedene Auszeichnungen, wie sie Arminius zuteilwurden, dürften ihm gewährt worden sein. Falls Marbod dies später nicht erwähnte, könnte es daran gelegen haben, dass es unter der Würde eines unabhängigen Königs gewesen wäre, und genau dies war Marbods Hauptanliegen. Nach seiner Rückkehr aus Rom hatte er sich von einem Privatmann zum Führer der Staatsgeschäfte emporgearbeitet und übernahm die Herrschaft über mehrere andere Stämme.
Hinter den genannten, scheinbar unscheinbaren Zeilen verbirgt sich eine äußerst spannende Geschichte. Um etwa 8 bis 6 v. Chr. hatten sich die westlichsten und den Römern am nächsten stehenden suebischen Völker, die Markomannen am Main, der Bedrohung durch römische Truppen in Augsburg, Mainz und der Taunusfestung – auch bekannt als Saalburg – entzogen und waren in das sichere Böhmen – einst von den keltischen Bojern besiedelt – geflüchtet. Dort glaubten sie, umgeben von dichten Wäldern, zunächst vor einem römischen Angriff geschützt zu sein.
Nachdem Drusus und Tiberius eine Reihe erfolgreicher Kriege zwischen Rhein und Weser sowie schließlich auch über die Weser bis zur Elbe geführt hatten – die Überquerung der Elbe schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein –, war es naheliegend, dass nun auch die Markomannen ins Visier geraten würden. Zudem mochten sie den Römern aus früheren Konflikten noch unangenehm im Gedächtnis geblieben sein, da sie bereits zusammen mit dem Suebenkönig Ariovist in Gallien gegen Caesar gekämpft hatten.
Der Auszug eines so mächtigen Volkes aus einem fruchtbaren Gebiet wie dem Maingebiet war bereits bemerkenswert, zumal die Markomannen zu diesem Zeitpunkt nicht unmittelbar bedroht waren. Hinzu kommt, dass dieser Exodus auf den Rat des Privatmannes Marbod zurückging, was alle Quellen bestätigen. Jener Marbod war zur Zeit seines Handelns bestenfalls 16 Jahre alt; er wurde im Jahr 24 v. Chr. geboren und war somit acht Jahre älter als Arminius. Da nicht anzunehmen ist, dass er die Markomannen dazu bewegen konnte, in ein ihm völlig unbekanntes Land zu ziehen, muss er dort bereits gewesen sein – möglicherweise im Zusammenhang mit einem römischen Feldzug, an dem er teilgenommen hatte. Auch die führenden Köpfe der Markomannen werden sich zunächst ein Bild von dem neuen Land gemacht haben, bevor sie entschieden, dem Rat eines so jungen Mannes zu folgen.
Es ist anzunehmen, dass Marbod diese Idee bereits lange zuvor hatte; tatsächlich gelang es einem für heutige Verhältnisse äußerst jungen Mann eine bemerkenswerte politische Leistung zu vollbringen. Für die Römer kam die Räumung eines für sie strategisch wichtigen Gebiets durch eine ernstzunehmende Bevölkerung sicher gelegen; andererseits waren ihre militärischen Möglichkeiten zu dieser Zeit eingeschränkt, da ihre Donauheere seit Jahren durch anhaltende Unruhen in Pannonien – dem heutigen Österreich, Westungarn und Nordjugoslawien – gebunden waren. Zudem könnten sie in Marbod einen loyalen Unterstützer gesehen haben, von dem kaum eine Bedrohung ausging.
Es stellt sich die Frage, wie ein so junger Mann – der laut den vorliegenden Informationen als 14- oder 15-Jähriger an den Main zurückgekehrt ist – einen solchen Einfluss ausüben konnte. Diese Überlegung führt unweigerlich zurück zu dem Konzept des Heils, das wir eingangs angesprochen hatten. Nur jemand mit einer Art königlichem Charisma konnte in der Lage sein, genug Einfluss zu gewinnen, um einem ansässigen Volk klarzumachen, dass es seine agrarisch erschlossenen Wohnsitze verlassen sollte und in ein weit entferntes Gebiet ziehen musste – und zwar zur Vermeidung einer militärisch-politischen Bedrohung, die noch nicht offensichtlich war.
Lediglich die Führungsschicht der Markomannen verfügte über ausreichend Kontakte zur weiteren Umgebung und konnte sich vorstellen, was möglicherweise auf sie zukam. Unter ihnen gab es sicherlich auch eine pro-römische Fraktion. Mindestens eines der angesehensten Geschlechter, das des Marbod, musste bei den Römern hoch geschätzt gewesen sein; anders lässt sich nicht erklären, dass sich sogar Augustus persönlich um Marbod kümmerte.
Der Aufmarsch der römischen Donauheere hatte bei den Markomannen sicherlich bereits erhebliche Unruhe ausgelöst; möglicherweise bedurfte es nur eines Anstoßes, um einen bereits vorhandenen Plan in die Tat umzusetzen. Dabei spielte Marbod ohne Zweifel eine entscheidende Rolle; auffällig ist jedoch, dass er dies aus der Position eines Privatmannes heraus tat.
Zunächst war er wohl lediglich der heimgekehrte Sohn aus angesehener Familie ohne offizielle Stellung; er war weder Gaugraf noch hatte er eine vergleichbare Position inne. Obwohl diese Volkswanderung kein Kriegszug war – denn das angestrebte Böhmen war zuvor weitgehend von den Bojern geräumt worden –, könnte dennoch eine Art Herzogswahl stattgefunden haben, bei der das Wohl seines Geschlechts für Marbod Vorrang hatte.
Seine römische Ausbildung sowie seine militärischen Kenntnisse und Erfahrungen dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben; denn die kriegerischen Markomannen hatten bereits einige Begegnungen mit den Römern gehabt und schätzten solche Fähigkeiten sicher hoch ein. Darüber hinaus kam ihm auch eine besondere äußere Erscheinung zugute, die ihm königliches Ansehen verlieh. Velleius beschreibt ihn als „einen kräftigen Körper“ und betont: „auch der eiligste Gang“ könne „an der Erwähnung dieses Mannes nicht vorbeigehen.“
Marbod galt „mehr durch seine Abstammung als durch seine Sinnesart als Barbar“. Velleius versteht darunter vor allem das, was wir heute Bildung nennen; gleichzeitig erwähnt er auch Marbods „wilde Sinnesart“. Er unterstellt ihm zudem die Absicht, mit dem Auszug der Markomannen und der Gewinnung Böhmens von Anfang an eine Herrschaft nach römischem Vorbild etablieren zu wollen – „nicht ein im Sturm der Ereignisse und durch Zufall gefährdetes Königtum“, sondern ein fest gefügtes und geordnetes.
Bereits zuvor wurde die gegensätzliche Auffassung der Germanen über Führung in Krieg und Frieden ausführlich dargestellt. Was Marbod beabsichtigte und letztlich erfolgreich umsetzte – wenn auch gegenüber Einzelnen etwas ungeschickt –, musste dem germanischen Empfinden von Unabhängigkeit und persönlicher Freiheit widersprechen. Daher muss die Entwicklung, die Marbod mit seinen Handlungen eingeleitet hat, umso bemerkenswerter gewertet werden. Offensichtlich gelang es ihm in kürzester Zeit eine Herrschaft aufzubauen, die vollständig auf römischen Prinzipien beruhte.
Während selbst ein mächtiger Gaugraf wie Segestes bestenfalls auf einem taktisch vorteilhaften Hof residierte – gesichert mehr durch seine Lage als durch steinerne Befestigungen –, ließ Marbod eine richtige Burg errichten, in welcher er einen Staatsschatz verwahrte; dies stellte für Germanen eine völlig neue Einrichtung dar. Diese Burg befand sich über einer Stadt; man vermutet unter anderem das heutige Budweis. Er zog römische sowie andere Händler an diesen Ort heran, um ihm wirtschaftliche Bedeutung zu verleihen. Zu Beunruhigung sowohl der Römer als auch der Germanen stellte er sogar ein stehendes Heer auf, das nach römischem Muster organisiert und ausgebildet war.
Wie nah diese Heeresgliederung an den römischen Strukturen war, ist nicht überliefert; jedoch waren Marbods taktische Vorstellungen sicherlich weit über das hinausgewachsen, was man bisher kannte. Beispielsweise verfügte er über eine Reservetruppe und weitere militärische Einheiten. Ob sein Heer tatsächlich eine Stärke von 70.000 Mann und 4.000 Reitern erreichte – wie Velleius Paterculus berichtet –, bleibt ebenso ungewiss wie fast alle römischen Angaben über eigene oder fremde Truppenstärken. Die Tatsache jedoch, dass sich Marbod wie ein römischer Caesar mit einer Leibwache umgab, schien für viele untragbar.
Dies ist hier nicht leichtfertig gesagt. Jedes politische System weist spezifische Merkmale auf, durch welche es sich selbst definiert; sollten solche Merkmale auch anderswo auftreten, erkennen sie sich dort wieder. Für die Römer jener Zeit waren stehendes Heer, Staatsschatz sowie Leibwache Ausdruck des Caesarismus unter Caesar und Augustus; folglich unterstellten sie auch Marbod caesarisch-imperialistische Ambitionen – was nicht ganz unbegründet war.
Marbod beherrschte neben den Markomannen auch die Sueben am Mittellauf sowie die Langobarden am Unterlauf der Elbe nebst einigen anderen Stämmen und Völkern. Seine spätere Neutralitätspolitik während der römisch-germanischen Konflikte spricht nicht gegen hegemoniale Absichten; dies wurde von den Römern instinktiv erkannt, denn friedliche Koexistenz kannte das römisch-imperiale Denken nicht.
Für die Römer bestand die Welt aus Römern sowie anderen Wesenheiten von begrenztem Wert – Menschen waren dazu da, von den Römern beherrscht zu werden. Die Römer litten unter einem Auserwähltheitswahn; dieser äußerte sich weniger durch Worte als vielmehr durch konkludente Handlungen: ihre hegemonialen Ansprüche setzten sie schnell in die Tat um. Als jahrzehntelanger Neutraler stellte Marbod eher eine Bedrohung für die linkselbischen Germanen dar; dies lenkte deren Aufmerksamkeit nach Osten sowie Südosten und entlastete somit die Römer.
In Rom dachte man indes ausschließlich aus römischer Perspektive und beanspruchte einen Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich Kultur; daraus leitete man ganz selbstverständlich das Recht ab, den Rest der Welt zu unterwerfen – was später auch für das christliche römische Weltreich galt: „Extra Romam non est salus“ (Außerhalb Roms gibt es kein Heil) … Auch Marbod war diesem Wahn verfallen; er imitierte Rom nur äußerlich ohne dessen tiefere Bedeutung zu erfassen.
Der Staat des Marbod hatte einen Zweck: seine Macht; jedoch fehlte ihm ein tieferer Sinn. Dass seine Truppen regelmäßige Übungen abhielten und sich durch ständige Auseinandersetzungen mit Nachbarn fit hielten war notwendig aus Sicht eines germanischen Gefolgsherrn; doch aus römischer Sicht durfte es keinen potenziellen Gegner an den Grenzen des Römischen Reiches geben.
Alle nur auf sich selbst bezogenen Individuen oder Staaten neigen dazu Entwicklungen um sie herum lediglich als gegen sie gerichtet wahrzunehmen; dass es Menschen gibt, deren einziges Bestreben darin besteht ihr eigenes Leben zu leben wird dabei oft ignoriert. Marbod hätte jedenfalls mehr goldene römische Ehrenrüstungen korrupt machen können als ihn eine Legion eingeschüchtert hätte.
Er handelte jedoch ebenso falsch wie möglich: Er gewährte jedem Flüchtling aus Rom bereitwillig Asyl und bemühte sich gleichzeitig diplomatisch um gute Beziehungen zu Rom. Mal traten seine Gesandten höflich auf – besonders wenn sie etwas von Rom wollten –, während sie andererseits penetrant betonten, dass ihr Herrscher gleichrangig mit dem römischen Caesar sei und andeuteten, dass Marbod durchaus bereit sei ihn herauszufordern.
Ein solches Verhalten wirkte sowohl komisch als auch verdächtig: Man erinnert sich an den Witz von Maus und Elefant. Trotz seines schnell errungenen Glanzes blieb Marbod letztlich nur eine Maus im Vergleich zum Elefanten Rom; selbst wenn man ihm hier oder dort einmal einen Stoß versetzte: Auf mehrere Legionen kam es langfristig nicht an.
Der Schmerz sowie Zorn waren jedes Mal groß; ebenso groß war jedoch auch das Selbstverständnis mit dem man Rückschläge wieder wettmachte. Der Tag einer Ausnahme von dieser Regel sollte erst noch kommen: Der Tag des Arminius … Das Verhalten Marbods wurde deshalb auch von einem Mann wie dem römischen Kavallerieführer Velleius so eingeschätzt: Zunächst sah er „ungekonnte Verstellung“, dann „offene Nebenbuhlerschaft“. Dass es nichts weiter war als Prahlerei mit einem nachgerade von den Römern kopierten Königtum kam Velleius sowie Tiberius gar nicht erst in den Sinn.
Wenn wir uns nun den römischen Reaktionen auf den „Fall Marbod“ zuwenden – welche ursächlich zu späteren Ereignissen im Teutoburger Wald beitrugen –, sollten wir uns ebenfalls fragen welchen Eindruck dies auf die cheruskischen Führer hatte.
Was hier geschah – noch bevor es zwei Jahrhunderte später zur Regel wurde dass ganze Völker quer durch Europa zogen –, stellte eine Sensation dar: nämlich dass sich die Markomannen ohne unmittelbaren militärischen Zwang aus einer vermuteten Schusslinie zurückzogen. Nicht weniger bemerkenswert war es zudem dass Marbod ohne lange Vorstufen eine Herrschaftsform etablierte welche auch in Rom nur de facto existierte – wenn auch „um sechs Ecken herum“, nämlich durch Personalunion verschiedener republikanischer Ämter des Augustus.
Das Königtum blieb offiziell immer noch tabu in Rom; ob die von Marbod regierten Völker tatsächlich untergeordnet waren oder lediglich aufgrund eines mehr oder weniger freiwilligen Bündnisses Teil dieses Reiches wurden spielte für Außenstehende wohl nur eine untergeordnete Rolle.
Marbod war damals auf germanischer Seite zweifellos ein bedeutender Akteur: Berücksichtigt man zudem was wir eingangs über die manchmal magische Fernwirkung solcher Führer gesagt haben wird deutlich was sein Ruf tatsächlich bedeutete.
Umso mehr können wir uns vorstellen welchen Schaden seine Großmannssucht der germanischen Sache zufügte; desto heller strahlt hingegen jener Stern desjenigen hervor welcher gegen Rom ohne Marbod obsiegte – obwohl dieser sicher einst sein Idol gewesen war. Überall wo die römischen Legionen jenseits der Alpen ihre Schatten warfen war es vor allem die Jugend in diesen Ländern welche sich leidenschaftlich gegen Romanisierung wehrte – sowohl militärisch als auch kulturell. Es lässt sich fast darauf schließen dass ältere Generationen tendenziell anders entschieden. Selbst in Gallien blieb dies noch über Jahrzehnte hinweg so obwohl Gallien längst Provinz geworden war.”