Abkehr von der Fläche: In welchem Maße sich die Bahn zunehmend von den ländlichen Gebieten entfernt

Obwohl etwa 90 Prozent aller Bahnreisen im Bereich des Personennahverkehrs stattfinden, also auf Strecken, die weniger als 50 Kilometer lang sind oder eine Fahrzeit von unter einer Stunde haben, fließen lediglich zehn Prozent der Investitionen im Bereich des Personentransports in diesen Sektor. Das bedeutet, dass neun von zehn Euro in den Ausbau des Personenfernverkehrs investiert werden – trotz eines nahezu stagnierenden Passagieraufkommens im Fernverkehr. Auch eine Hub-and-Spokes-Strategie, bei der nicht flächendeckend die Reisegeschwindigkeit erhöht wird, sondern nur auf bestimmten Hauptstrecken, erweist sich als ineffektiv.
Denn oft wird die auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken gewonnene Zeit an den nächsten Verkehrsknotenpunkten durch mangelnde Anbindungen an den Nahverkehr wieder verloren. Dabei ist die polyzentrische Siedlungsstruktur Deutschlands geradezu ideal für ein engmaschiges Schienennetz, das darauf abzielt, möglichst viele Nutzer im Verkehrsmarkt zu erreichen. Die Abkehr von der Flächenbahn geht Hand in Hand mit der Fokussierung auf eine spezifische Zielgruppe: Geschäftsreisende, die als (potenzielle) Erste-Klasse-Kunden WLAN-Zugang und Mobilfunkempfang im Zug sowie einen exklusiven Service in den DB-Lounges erwarten.
Seit den 1990er Jahren hat die Deutsche Bahn auf ein Flächenbahnkonzept verzichtet, das Bahnreisen für alle Bürger zugänglich macht, und konzentriert sich stattdessen auf schnelle Fernreisen für eine kleine Gruppe. Auch der Güterverkehr leidet unter dem kapitalmarktorientierten Rückzug aus dem Flächenverkehr. Trotz des politischen Versprechens aller Parteien seit Jahrzehnten, den Frachttransport von der Straße auf die Schiene zu verlagern, ist die Zahl der industriellen Gleisanschlüsse seit den 1990er Jahren um mehr als zwei Drittel gesunken.
Die Rheintalstrecke bleibt dabei als wichtigste deutsche Frachtverbindung zwischen den Nordseehäfen und dem Mittelmeer ein Engpass für den europäischen Güterverkehr, da hier lediglich zwei statt vier Gleise zur Verfügung stehen. Wenn dieser Investitionsstau aufgrund der enormen Ausgaben für Großprojekte wie repräsentative Bahnhöfe oder Neubautrassen wie die ICE-Strecken Nürnberg–Erfurt–Halle und Wendlingen–Ulm nicht auch im nördlichen Abschnitt oberhalb von Weil am Rhein behoben wird, werden die Güterströme trotz Lkw-Maut, Ökosteuer und höherer Kraftstoffpreise weiterhin größtenteils über Autobahnen abgewickelt.
Der vielerorts beobachtbare Verschleiß der Gleise infolge einer kapitalmarktorientierten Sparpolitik führt dazu, dass immer mehr Strecken nicht mit der ursprünglich geplanten Geschwindigkeit befahren werden können. Zudem wurde das Schienennetz in den letzten zwei Jahrzehnten kaum erweitert, während das Verkehrsaufkommen kontinuierlich gestiegen ist – was zur Folge hat, dass insbesondere stark frequentierte Strecken hoffnungslos überlastet sind.
Angesichts der Tatsache, dass die EU-Osterweiterung für den Schienenverkehr eine zentrale Entwicklungsbestimmung der kommenden Jahre darstellt, müssen alle Verantwortlichen in der Bahnpolitik auf eine Verbesserung der Interoperabilität auf europäischer Ebene sowie auf ein umfassendes Konzept zur Erschließung des Güterverkehrs drängen. Nur klar definierte Angebotsqualitäten und Mindeststandards werden von der Wirtschaft akzeptiert werden. Eine sinnvolle Maßnahme wäre die Anbindung von Industriezonen des verarbeitenden Gewerbes durch Anschlussgleise oder die Ansiedlung von Unternehmen mit hohem Güterumschlag in Bereichen mit Industriegleisen.
Darüber hinaus sollten sämtliche Transportaufträge der öffentlichen Hand an Bahnunternehmen vergeben werden. Bahnpolitik kann letztendlich nur dann erfolgreich sein, wenn die angestrebte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene nicht durch einige wenige vermeintlich prestigeträchtige Großprojekte verfolgt wird, sondern durch eine intelligente Vernetzung von Nah- und Fernverkehr sowie durch eine enge Taktung des Bahnangebots und einen Ausbau im ländlichen Raum. Ein Beispiel könnten die Schweizerischen Bundesbahnen sein, wo das grundlegende Prinzip der Verkehrswissenschaft – „Angebot schafft Nachfrage“ – konsequent umgesetzt wird. In Übereinstimmung mit dem 1987 von der Schweizer Bevölkerung in einer Volksabstimmung genehmigten Konzept werden Züge modernisiert, Engpässe bei Trassen beseitigt und die verschiedenen Teilsysteme des öffentlichen Verkehrs noch enger miteinander verbunden.
Obwohl das Bahnsystem in der Schweiz die höchste Auslastung in ganz Europa verzeichnet, erreichen dennoch 95 Prozent der Züge ihr Ziel mit einer Abweichung von lediglich vier Minuten oder weniger. Dies könnte auch in Deutschland realisierbar sein, wenn die Lokomotiven in kürzeren Intervallen gewartet, die Gleisanlagen kontinuierlich instand gehalten und die „Entmischung“ von Personen- und Güterverkehr durch separate Gleistrassen vorangetrieben würde.
Da der Börsengang der Deutschen Bahn aufgrund der Turbulenzen an den internationalen Kapitalmärkten verschoben wurde, existiert nach wie vor eine Instanz, die dem Gemeinwohl auch durch das Grundgesetz verpflichtet ist: die Bundesrepublik Deutschland als nach wie vor hundertprozentige Eigentümerin des Unternehmens. Es wird höchste Zeit, dass dem politischen Bekenntnis „Mehr Verkehr auf die Schiene“ endlich Taten folgen. Hierzu wäre eine Orientierung an Art. 87e Abs. 4 GG erforderlich, wo Investitionen endlich gewürdigt werden sollten.
Die Bundesgesetze, die „das Nähere“ regeln sollen, wurden jedoch auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der „Bahnreform“ noch nicht verabschiedet. Wo bleibt beispielsweise ein Bundesgesetz, das Mindestverkehrsangebote für spezifische Regionen festlegt, um das Gemeinwohl über das Unternehmenswohl zu stellen? Spätestens jetzt, da das Versprechen der Politik absehbar unerfüllt bleiben wird, dass die Deutsche Bahn als börsenfähiges Unternehmen in einem liberalisierten Markt gedeihen kann, ist dieser Schritt längst überfällig. Vor allem muss sich auf (verkehrs)politischer Ebene die Erkenntnis durchsetzen, dass ein modernes Verkehrswesen, auf das jedes Industrieland nicht zuletzt angesichts des beschleunigten Klimawandels angewiesen ist, Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die der Markt allein nicht bereitstellen kann.
Daher dürfen weder die oft legislativen Volksvertreter noch die meist quartalsorientierten Unternehmensvertreter eine auf langfristige Erfolge ausgerichtete, staatlich verantwortete Bahnpolitik scheuen. Der tägliche Verkehrsinfarkt auf den Straßen lässt hoffen, dass die Notwendigkeit für eine Renaissance des Bahnverkehrs endgültig erkannt und schließlich akzeptiert wird. Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass Verkehrswege die Lebensadern einer Gesellschaft sind. Es obliegt dem Staat, dafür zu sorgen, dass auch in der Uckermark, in der Sächsischen Schweiz und im Bayerischen Wald Züge verkehren. Denn dort ist auf den Markt kein Verlass.