Warum die kulturelle Identität in der Vergangenheit liegt
Die kulturelle Identität hat in ihrer Geschichte viele Höhepunkte und mitunter lange Blütezeit erlebt, allerdings diese Geschehnisse liegen im weitesten Sinne in der Vergangenheit. In der heutigen Zeit feiert sich die Oper- und Theaterlandschaft durch skurril anmutende Neuinszenierungen von einstigen klassischen Meisterwerken in vielfacher Hinsicht einfach nur selbst. Neue Stücke sind in den meisten Fällen kaum besser in der Qualität und für viele Menschen mutet deswegen die Welt der Kulturschaffenden wahrlich sehr fremd an.
“Wagners „Fliegenden Holländer“ an der Oper Frankfurt” – “Die Bierkästen sind fast leer”
„David Bösch hat Wagners „Fliegenden Holländer“ an der Oper Frankfurt als düstere Endzeitvision inszeniert. … Die Bierkästen sind fast leer. Ein paar Flaschen machen noch die Runde. Die Mannschaft um Kapitän Daland in ihrem schwarzen Regenzeug samt gelber Warnwesten hängt in den Seilen – nicht nur, weil sie so besoffen ist, sondern auch, um die vom Sturm auseinandergerissenen Segel (hier aus Plastikbahnen) zu bändigen. Es ist eine düstere, gespenstische Atmosphäre, die Regisseur David Bösch auf die Frankfurter Opernbühne bringt. Ganz im Sinne einer „Schwarzen Romantik“, die durchaus in Wagners „Fliegendem Holländer“ steckt. Bösch zeigt diese Oper als eine Art Endzeitvision voller Todessehnsucht der Protagonisten, behutsam modernisiert, ohne dem Stück Gewalt anzutun.“
“Bösch zeigt diese Oper als eine Art Endzeitvision voller Todessehnsucht der Protagonisten”
Als eine real existierende visionslose „düstere Endzeit“ könnte man auch streckenweise die gesamte kulturelle Landschaft bezeichnen. Ohne Zweifel lässt sich der Schluss ziehen, dass das Land der Dichter und Denker hat schon bessere Zeiten gesehen hat. Die herausredende romantische Oper der Fliegenden Holländer von 1843 verkommt zur kulturellen Insolvenzmasse, nach der jeder Regisseur nach belieben verfügen kann. Die kulturelle Identität rückentwickelt sich zur ausdruckslosen Folklore.
“Viele Traditionen wie der Hula sind zur Touristenattraktion verkommen”
„Viele Traditionen wie der Hula sind zur Touristenattraktion verkommen. Gibt es heute noch eine authentische Kultur ?
Hier ist der Hula tatsächlich ein sehr gutes Beispiel: In vielen Hulaschulen lehren hawaiische Lehrerinnen und Lehrer einen Hula, der auf den überlieferten Traditionen beruht und auf vielfältigste Weise mit anderen Aspekten der Überlieferungen verbunden ist: dem Sammeln von Pflanzen zur Herstellung von Schmuck und Kleidung, der Herstellung von Instrumenten wie den verschiedenen Trommeln oder der Durchführung von Zeremonien. Aber natürlich geht es hier nicht um eine Konservierung der Vergangenheit, denn das hawaiische Leben findet selbstverständlich in der Gegenwart statt.“
“Herstellung von Instrumenten wie den verschiedenen Trommeln oder der Durchführung von Zeremonien”
Im weit entfernten Hawaii beginnt – jenseits der Tourismusindustrie – ein Rückbesinnen auf die eignen kulturellen Leistungen.
“Auch und gerade für Wissenschaft und Künste ist dieses Experimentieren von großer Bedeutung”
>> Wir schaffen das – alleine! von Andreas Marquart & Philipp Bagus<<
„Auch und gerade für Wissenschaft und Künste ist dieses Experimentieren von großer Bedeutung. Gibt es viele politische Einheiten, stehen sie in einem starken Wettbewerb, die besten Wissenschaftler und Künstler anzuziehen. Dazu müssen Universitäten, Bildungssysteme und die kulturelle Landschaft attraktiv gestaltet werden. Die Folgen kulturellen Wettbewerbs lassen sich auch historisch sehr gut nachvollziehen. Der Ökonom Roland Vaubel hat sich in einem Aufsatz mit der Frage beschäftigt, warum die Barock- und Renaissancemusik in Italien und Deutschland und nicht im zentralistischen Frankreich aufkam. Vaubel gelangte zu dem Ergebnis, dass es gerade die politische Fragmentierung Italiens und Deutschlands war, die durch intensiven Wettbewerb um die Musiker zu dieser musikalischen Blüte führte. Die verschiedenen Fürstenhöfe buhlten um die Musiker und versuchten, sie mit attraktiven Arbeitsbedingungen für sich zu gewinnen. Deutschlands größter Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) zog ebenfalls eine Verbindung zwischen kultureller Blüte und politischem Wettbewerb:
Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? – Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände? Ja, auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht! Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken. An Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl, denn jeder Fürst hat dafür gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluss da. Ja, es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hätte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich?
In Deutschland war nicht alles in der Hauptstadt eines Großstaates konzentriert wie in Frankreich oder östlichen Riesenreichen. Die vielen unabhängigen politischen Einheiten in Deutschland – als Goethe diese Worte äußerte, waren es 39 an der Zahl – befanden sich in einem intensiven Wettbewerb. Wundert es da, dass die Zeit der deutschen Kleinstaaten ebenfalls die Zeit der kulturellen Blüte war? Im 19. Jahrhundert standen die angesehensten Universitäten der Welt in Deutschland, die um die hellsten Köpfe konkurrierten. Dort revolutionierte sich das Universitätssystem und wurde zum Vorbild für die ganze Welt. Deutschland erlebt eine einmalige kulturelle Entwicklung. Von Johann Sebastian Bach (1685–1750), Georg Friedrich Händel (1685–1756), Joseph Haydn (1732–1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) über Ludwig van Beethoven (1770–1825), Franz Schubert (1797–1828), Robert (1810–1856) und Clara Schumann (1819–1896), Richard Wagner (1813–1883) bis hin zu Johannes Brahms (1833–1897) und vielen anderen prägten deutsche Komponisten die europäische Musiklandschaft. Mit Dichtern wie Christoph Martin Wieland (1733–1813), Johann Gottfried Herder (1744–1803), Friedrich von Schiller (1759–1805), Friedrich Hölderlin (1770–1843), Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Heinrich von Kleist (1777–1811), Franz Grillparzer (1791–1872), Heinrich Heine (1797–1856), Theodor Storm (1817–1888) oder Theodor Fontane (1819–1898) erreichte die deutsche Literatur ihre Blüte. Die Philosophie erfuhr durch Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Georg Wilhelm Hegel (1770–1831), Friedrich Schelling (1775–1854), Arthur Schopenhauer (1788–1860), Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) entscheidende Entwicklungen. Und auch in den Wissenschaften kam es zu einer einmaligen Schaffensphase, die bis über die Kaiserzeit hinaus fortwirkte. Größen wie Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), Georg Ohm (1789–1854), Carl Friedrich Gauß (1777–1859), Alexander (1769–1859) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Justus von Liebig (1803–1873), Heinrich Schliemann (1822–1890), Ernst Mach (1838–1919), Heinrich Hertz (1857–1894), Otto Lilienthal (1848–1896), Robert Koch (1843–1910), Ferdinand Braun (1850–1918), Wilhelm Röntgen (1845–1923), Carl Benz (1844–1929), Rudolf Diesel (1858–1913), Max Planck (1858–1947) oder Albert Einstein (1879–1955) gelangen bahnbrechende Erkenntnisse. Ohne Übertreibung darf behauptet werden, dass zu dieser Zeit Deutschland in Musik, Literatur, Philosophie und den Wissenschaften führend war. Sie kennen den Ausspruch, der aus dieser Periode stammt: das Land der Dichter und Denker.“
“Zu dieser Zeit Deutschland in Musik, Literatur, Philosophie und den Wissenschaften führend”
Es wäre kaum möglich eine vollständige Liste zu präsentieren, weil die Namen so zahlreich sind. Die heutigen Gegebenheit bieten wohl kaum einen Nährboden um glorreiche Meisterwerke – wie in vergangenen Zeiten – gedeihen zu lassen.