“Staatsanwälte haben den Spruch »U-Haft schafft Rechtskraft« geprägt”
Hexenverfolgungen werden heute zum Teil als folkloristische Ereignisse beworben oder als skurrile Episode in der Geschichte angesehen. Das Thema hat jedoch auch Auswirkungen auf die gegenwärtige Rechtsprechung, und es ist möglich, dass dies in der Zukunft weiterhin relevant bleibt, obwohl die Perspektiven darauf zum Teil stark variieren.
Stadt Görlitz: “Kinder, Jugendliche und junggebliebene Seelen gehen mit Hexe Alena”
“Kinder, Jugendliche und junggebliebene Seelen gehen mit Hexe Alena und ihrem tierischen Begleiter (Handpuppe) auf eine märchenhafte und geschichtenreiche Stadterkundung und lauschen, was die Häuser zwischen Ober- und Untermarkt zu erzählen haben.”
Hexen: Zwischen allgemeiner Unterhaltung & juristischer Aufarbeitung
Ungeachtet dieser Darstellung existieren jedoch durchaus Urteile, die bis in die Gegenwart nachwirken. Auch heute ist es für manche Städte notwendig, aufgrund der Hinrichtung eines angeblichen “Hexenmeisters” eine Entschädigung zu leisten.
“Kirche kassiert seit 430 Jahren Horror-Zinsen von Stadt Trier”
“Lukrativer Mord an Dietrich Flade„Hexer“ hingerichtet: Kirche kassiert seit 430 Jahren Horror-Zinsen von Stadt Trier – Bis heute kassiert sie als Folge des grausamen Mordes jedes Jahr mehrere hundert Euro aus der Stadtkasse. … Der Wahnsinn beginnt im Jahr 1589: Am 18. September wird Dietrich Flade auf dem Hinrichtungsplatz im heutigen Stadtteil Euren stranguliert und anschließend verbrannt. Der Vorwurf – wie so oft in jener Zeit: Flade sei ein „Hexenmeister“ gewesen.”
“Dietrich Flade auf dem Hinrichtungsplatz im heutigen Stadtteil Euren stranguliert und anschließend verbrannt”
Die Hexenverfolgungen werden häufig oberflächlich als irrationaler religiöser Fanatismus abgetan. Dennoch wurden bereits zu jener Zeit “weltliche Urteile” gefällt, und vieles – ähnlich wie in der heutigen Zeit – wurde einem zuständigen Kommissar übertragen. Der Hexenkommissar hatte dabei alle Hände voll zu tun.
“Hexenkommissar” – “Verantwortlicher für die entsetzlichste Hexenjustiz im deutschsprachigen Raum”
>>Hexen Glaube, Verfolgung, Vermarktung von Wolfgang Behringer (Buch) <<
“Es wird Wirtzbürgisch Werck werden, zitiert der Kurkölner Hexenkommissar Heinrich Schultheis (ca. 1580–1646) einen Stadtrat, und dies war im Hinblick auf die Verfolgungen in den Territorien des Kölner Kurfürsten Ferdinand von Bayern (1577–1650) nicht übertrieben. Mit 2000 Hexenverbrennungen im Erzstift und dem Herzogtum Westfalen gilt er als Verantwortlicher für die entsetzlichste Hexenjustiz im deutschsprachigen Raum.”
“2000 Hexenverbrennungen” – Hat schon damals die Justiz an der Belastungsgrenze gearbeitet?
Bereits damals war die “arme Justiz” bei bis zu 2.000 Hexenverbrennungen an der Belastungsgrenze tätig. Auch in dem benachbarten Land Österreich schien die Justizverwaltung mit zahlreichen Überstunden konfrontiert zu sein.
“Justizbehörde unendlich grausame Urteile” – “Jugendlichen Opfer wurden meist erdrosselt oder enthauptet”
“Der Hofrat fällte als Justizbehörde unendlich grausame Urteile: Die oft noch jugendlichen Opfer wurden meist erdrosselt oder enthauptet und anschließend verbrannt. Für die Hinrichtung von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren wurde als „Gnadenakt“ eigens ein Fallbeil aus Italien importiert. Schonung gab es nur für die meisten, aber nicht alle Mädchen und Buben, die jünger als zehn Jahre alt waren – sie kamen zu Pflegeeltern, mussten aber vorher zum Teil die Hinrichtungen ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen.”
“Hinrichtung von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren wurde als „Gnadenakt“ eigens ein Fallbeil aus Italien importiert”
Die “rechtsstaatliche Verurteilung” von Minderjährigen wurde schon zur damaligen Zeit voller Überzeugung praktiziert. Kritische Stimmen aus diesem Kreisen waren damals kaum zu vernehmen und die Verfolgung von Hexen hat zur offenbar Staatsräson gehört. Die Hexenverfolgung wird heutzutage gern den finsteren Mittelalter zugeschrieben, aber die allermeisten Prozesse fanden eher in der frühen Neuzeit statt. Das ist vermutlich auf recht banale Ursachen zurückzuführen.
“Das Jahr 1628 wird von Klimahistorikern als „Jahr ohne Sommer“ bezeichnet”
>>Hexen Glaube, Verfolgung, Vermarktung von Wolfgang Behringer (Buch) <<
“Publikationen wie der Thewrungs Spiegel eines Würzburger Geistlichen im folgenden Jahr beschäftigten sich mit der Frage, ob Hexen für Frost, Hagel und Preissteigerungen verantwortlich gemacht werden konnten. … Das Jahr 1628 wird von Klimahistorikern als „Jahr ohne Sommer“ bezeichnet. Eine 1629 veröffentlichte Neue Zeitung von sechshundert Hexen, Zauberern und Teufelsbannern, welche der Bischof von Bamberg hat verbrennen lassen stellt ebenfalls einen direkten Zusammenhang zwischen Klimakatastrophe, Mißernte und Hexenverfolgung her.”
“Frage” – “Ob Hexen für Frost, Hagel und Preissteigerungen verantwortlich gemacht werden konnten”
Nach der mittelalterlichen Warmzeit hat eine spürbare Abkühlung eingesetzt. Dies führte zu schlechteren Erträgen – bis hin zu vollständigen Missernten – und diversen Folgeproblemen – wie etwa Armut. Die hingerichteten Kinderhexen waren beispielsweise nahezu ausnahmslos von Armut betroffen, und einige von ihnen kannten nicht einmal ihren eigenen Namen. Mit den Hexenprozessen konnte man sich also auf einfache Weise vieler unerwünschter Personen – wie bettelnden Kindern – entledigen. Darüber hinaus: Bis heute wurden die Opfer der Hexenverfolgung nicht wirklich rehabilitiert.
Hexen: “Juristische Rehabilitierung” – “Was kurios klingt, hat einen ernsten Hintergrund”
“Bernau rehabilitiert Opfer der Hexenverfolgung – Die Stadt Bernau würdigt die Opfer der Hexenjagd. Was kurios klingt, hat einen ernsten Hintergrund: Der Schritt ist ein Zeichen gegen Diskriminierung. … Dieser erklärt, warum eine juristische Rehabilitierung unmöglich sei: „Die Stadt Bernau ist kein Rechtsnachfolger der damals Urteilenden.“ Auch eine finanzielle Entschädigung von Nachkommen scheide somit aus.”
Fehlende juristische Rehabilitierung: “Auch eine finanzielle Entschädigung von Nachkommen scheide somit aus”
Die Erklärung, weshalb eine juristische Rehabilitierung nicht erfolgt, erscheint tatsächlich noch merkwürdiger, da an anderen Orten bis heute Entschädigungen ausgezahlt werden. Gleichzeitig sind die Städte und Gemeinden in der Regel in der Lage, eine konsistente Rechtskultur nachzuweisen. Was ist also der wahre Hintergrund? Eine juristische Rehabilitierung würde vermutlich auch einen erheblichen Schatten auf die gegenwärtige Justiz werfen, da die meisten Urteile auf erpressten Geständnissen basieren.
“Publizist Wilhelm Ludwig Wekhrlin hat dafür gesorgt, dass aus dem Justizmord ein Justizskandal wurde”
“Cagliostro starb in einem venezianischen Gefängnis, nicht weil er ein Hexenmeister, sondern weil er keiner war, bloß ein magischer Betrüger. Die letzte ›Hexe‹ in Deutschland, die Dienstmagd Anna Maria Schwegelin, wurde 1775 – nein, nicht verbrannt, sondern zur Enthauptung verurteilt: wegen eines Teufelspakts (den sie gestanden) und eines Schadenzaubers (den sie nicht gestanden hatte). Die Hinrichtung wurde nicht vollzogen, Schwegelin starb 1781 im Stockhaus des Stifts Kempten. Heute hat sie dort einen Brunnen als Denkmal. Ein Jahr nach ihrem Tod wurde in der Schweizer Stadt Glarus die Magd Anne Göldin nach einem Hexenprozess wegen Giftmischerei enthauptet. Der rabiate Publizist Wilhelm Ludwig Wekhrlin hat dafür gesorgt, dass aus dem Justizmord ein Justizskandal wurde. Die Göldin hat seit 2007 ein Museum in Mollis, im August 2008 wurde sie offiziell rehabilitiert.”
“Magd Anne Göldin nach einem Hexenprozess wegen Giftmischerei enthauptet”
Die Methode, wie diese Geständnisse zustande kamen, hat bis in die Gegenwart Auswirkungen. Zwar wird üblicherweise keine Folter aus dem Mittelalter mehr praktiziert, jedoch kann auch die Untersuchungshaft – sprich Gefängnis – ähnliche Effekte hervorrufen.
“Untersuchungshaft” – “Enge Zelle. Weg von der Familie. Einsamkeit”
>>Inside Strafverteidigung von Burkhard Benecken & Hans Reinhardt (Buch) <<
“Marius war derweil beim Gericht dem Haftrichter vorgeführt und in die nächste Justizvollzugsanstalt (JVA) gebracht worden. Vorläufige Endstation: Untersuchungshaft. Enge Zelle. Weg von der Familie. Einsamkeit. Der Vorwurf, der ihm gemacht wurde, ließ den zweifachen Vater immer noch konsterniert zurück: sexueller Missbrauch von Kindern in mindestens zehn Fällen. »Ich bin doch kein Kinderschänder«, sagte Marius. … Ich hatte zwischenzeitlich Marius’ Verteidigung übernommen. Schon beim ersten Gespräch in der Justizvollzugsanstalt traf ich auf einen gebrochenen Mann. Einen, der sichtbar am Rande der Verzweiflung war. Marius schilderte mir glaubhaft, dass alle Vorwürfe jedweder Grundlage entbehrten.”
“Untersuchungshaft” – “Beim ersten Gespräch in der Justizvollzugsanstalt traf ich auf einen gebrochenen Mann”
Am Ende erwiesen sich alle Anschuldigungen als unbegründet. Doch welchen Nutzen hat das für die Betroffenen? Die Untersuchungshaft erzeugt ein “Umfeld”, das sowohl die Bereitschaft zu Geständnissen als auch zu Falschgeständnissen fördert, was auch absichtlich so wahrgenommen wird.
“Staatsanwälte haben den Spruch »U-Haft schafft Rechtskraft« geprägt”
>>Inside Strafjustiz: Ein Richter packt aus von Patrick Burow (Buch) <<
“Ein besonders scharfes Schwert ist die Untersuchungshaft. Voraussetzung für ihre Anordnung sind ein dringender Tatverdacht sowie das Vorliegen eines Haftgrundes, wie Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr. Der vorläufig Festgenommene muss innerhalb von 24 Stunden dem Haftrichter vorgeführt werden. Die Ermittlungsakte ist zu diesem Zeitpunkt noch jungfräulich dünn. Außer dem Beschuldigten wird niemand angehört. Meist erlässt der Richter den Haftbefehl auf dieser dünnen Tatsachengrundlage. Die Untersuchungshaft dauert mindestens sechs Monate, kann durch das Oberlandesgericht verlängert werden. Staatsanwälte haben den Spruch »U-Haft schafft Rechtskraft« geprägt. Ob und welche Freiheitsstrafe später vom Gericht ausgeurteilt wird, ist ungewiss, aber die sechs Monate U-Haft hat der Beschuldigte schon mal sicher. Aus seiner Sicht ist U-Haft wie eine vorweggenommene Strafe. U-Haft fördert darüber hinaus die Geständnisbereitschaft und den Rechtsmittelverzicht nach Urteilsverkündigung. Beschuldigte sind zu großen Zugeständnissen bereit, um schnell wieder aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen zu werden. Die Staatsanwaltschaft geht deshalb nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass U-Haft den Weg zu einem rechtskräftigen Urteil beschleunigt.”
“U-Haft fördert darüber hinaus die Geständnisbereitschaft und den Rechtsmittelverzicht nach Urteilsverkündigung”
Da es keine tatsächliche Höchstgrenze für eine “U-Haft” gibt, kann der zynische Ausdruck “U-Haft schafft Rechtskraft” durchaus wörtlich interpretiert werden. Das Hauptverfahren, respektive mit Revision kann sich über viele Jahre erstrecken und selbst im Falle eines Freispruchs ist häufig das Leben des Angeklagten danach unwiderruflich zerstört. Für Richter, Polizei und Staatsanwälte bleibt dies jedoch ohne jegliche Konsequenzen. Die rechtlichen Praktiken zur Erlangung von Geständnissen sind somit nicht weit entfernt von einem traditionellen Hexenprozess.