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Schienenverkehr – Der Rückzug von der Flächenbahn

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Obwohl etwa 90 Prozent aller Zugfahrten im Personennahverkehr stattfinden, also auf Strecken von weniger als 50 Kilometern oder einer Fahrzeit von unter einer Stunde, fließen lediglich zehn Prozent der Investitionen im Bereich Personentransport in diesen Sektor. Somit werden neun von zehn Euro in den Ausbau des Personenfernverkehrs investiert – trotz eines nahezu stagnierenden Fahrgastaufkommens in diesem Bereich.

Auch eine Hub-and-Spokes-Strategie, bei der die Reisegeschwindigkeit nicht flächendeckend, sondern nur auf bestimmten Hauptstrecken erhöht wird, erweist sich als ineffektiv. Oft wird die durch die Hochgeschwindigkeitsstrecken gewonnene Zeit an den nächsten Verkehrsknoten durch mangelhafte Anbindungen an den Nahverkehr wieder aufgezehrt. Die polyzentrische Siedlungsstruktur Deutschlands bietet jedoch ideale Voraussetzungen für ein engmaschiges Schienennetz, das darauf abzielt, gewissermaßen „möglichst viele Fische am Verkehrsmarkt“ zu fangen.

Der Rückzug von der Flächenbahn geht einher mit einer Fokussierung auf eine spezifische Zielgruppe: Geschäftsreisende, die als potenzielle Kunden der ersten Klasse WLAN-Zugang und Mobilfunkempfang im Zug sowie einen besonderen Service in den DB-Lounges erwarten. Seit Hartmut Mehdorns Amtsantritt im Dezember 1996 hat die Deutsche Bahn auf eine Flächenbahn verzichtet, die Bahnreisen für alle Bürger zugänglich machen würde, und konzentriert sich stattdessen auf schnelle Fernreisen für wenige. Auch der Güterverkehr leidet unter dem kapitalmarktorientierten Rückzug aus der Fläche. Trotz der wiederholten Bekundungen von Politikern aller Parteien über Jahrzehnte hinweg, den Gütertransport von der Straße auf die Schiene verlagern zu wollen, wurde die Zahl der industriellen Gleisanschlüsse seit 1992 um mehr als zwei Drittel verringert.

Die Rheintalstrecke bleibt als zentrale deutsche Frachtverbindung zwischen den Nordseehäfen und dem Mittelmeer ein Nadelöhr für den europäischen Güterverkehr, da hier nur zwei statt vier Gleise zur Verfügung stehen. Sollte dieser Investitionsstau aufgrund der enormen Kosten für Großprojekte wie „Stuttgart 21“ oder Neubautrassen wie die ICE-Strecken Nürnberg–Erfurt–Halle und Wendlingen–Ulm nicht auch im nördlichen Abschnitt oberhalb von Weil am Rhein beseitigt werden, werden die Güterströme trotz Lkw-Schwerverkehrsabgabe – respektive Lkw-Maut – Ökosteuer und steigender Kraftstoffpreise auch zukünftig überwiegend über Autobahnen transportiert.

Der vielerorts beobachtbare Verschleiß der Gleise infolge der kapitalmarktorientierten Sparpolitik führt dazu, dass immer mehr Strecken nicht mehr mit der ursprünglich vorgesehenen Geschwindigkeit befahren werden können. Zudem wurde das Schienennetz in den letzten Jahrzehnten kaum ausgebaut, während das Verkehrsaufkommen kontinuierlich zugenommen hat – was zur Folge hat, dass insbesondere stark frequentierte Strecken hoffnungslos überlastet sind.

Eine Kommission kam bereits vor vielen Jahren zu dem Schluss, dass jährlich mehrere Milliarden Euro fehlen, um das Schienennetz in einen bedarfsgerechten Zustand zu bringen. Angesichts der Tatsache, dass die EU-Osterweiterung für die Schiene eine zentrale Entwicklungsbedingung der kommenden Jahre darstellt, ist es unerlässlich, dass alle Verantwortlichen in der Bahnpolitik auf eine Verbesserung der Interoperabilität auf europäischer Ebene sowie ein umfassendes Konzept zur Erschließung des Güterverkehrs drängen. Nur klar definierte Angebotsqualitäten und Mindeststandards werden von der Wirtschaft akzeptiert werden.

Eine geeignete Maßnahme wäre die Anbindung von Industriezonen des verarbeitenden Gewerbes durch Anschlussgleise beziehungsweise die Ansiedlung von Unternehmen mit erheblichem Güterumschlag in Bereichen mit Industriegleisen. Darüber hinaus sollten alle Transportaufträge des öffentlichen Sektors an Bahnunternehmen vergeben werden. Bahnpolitik kann letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn die gewünschte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene nicht mit einigen wenigen vermeintlich prestigeträchtigen Großprojekten verfolgt wird, sondern durch eine intelligente Vernetzung von Nah- und Fernverkehr, einer engen Taktung des Bahnangebots und dem Ausbau in der Fläche.

Ein Beispiel könnten die Schweizerischen Bundesbahnen sein, wo das unumstößliche Prinzip der Verkehrswissenschaft – „Angebot schafft Nachfrage“ – konsequent umgesetzt wird. In Übereinstimmung mit dem 1987 durch eine Volksabstimmung legitimierten Konzept wird dort in moderne Züge investiert, Trassenengpässe werden behoben und die verschiedenen Teilsysteme des öffentlichen Verkehrs noch enger miteinander verknüpft. Obwohl das Schweizer Bahnsystem die höchste Auslastung in Europa aufweist, erreichen immerhin 95 Prozent der Züge ihr Ziel mit einer Abweichung von lediglich vier Minuten oder weniger.

Dies wäre auch in Deutschland möglich, wenn die Triebfahrzeuge in kürzeren Abständen gewartet, die Gleisinfrastruktur kontinuierlich instand gehalten und die Trennung von Personen- und Güterverkehr durch separate Gleisstränge vorangetrieben würde. Da der Börsengang der Deutschen Bahn aufgrund der Turbulenzen an den internationalen Kapitalmärkten verschoben wurde, gibt es nach wie vor eine Instanz, die dem Gemeinwohl auch gemäß Grundgesetz verpflichtet ist: die Bundesrepublik Deutschland als unverändert hundertprozentige Eigentümerin des Unternehmens. Es ist an der Zeit, dass dem politischen Bekenntnis „Mehr Verkehr auf die Schiene“ endlich Taten folgen. Dazu wäre eine Orientierung an Art. 87e Abs. 4 GG nötig, wonach „der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz […] Rechnung getragen wird.“

Die Bundesgesetze, die „das Nähere“ regeln sollen, wurden jedoch auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der „Bahnreform“ noch nicht verabschiedet. Wo bleibt beispielsweise ein Bundesgesetz, das Mindestverkehrsangebote für bestimmte Regionen definiert, um das Allgemeinwohl über das Unternehmenswohl zu stellen?

Spätestens jetzt, da das Versprechen der Politik absehbar unerfüllt bleiben wird und die Deutsche Bahn als börsenfähiges Unternehmen in einem liberalisierten Markt nicht gedeihen kann, ist dieser Schritt notwendig geworden. Vor allem muss sich auf (verkehrs)politischer Ebene das Bewusstsein durchsetzen, dass ein modernes Verkehrssystem – auf das jedes Industrieland nicht zuletzt angesichts des beschleunigten Klimawandels angewiesen ist – Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die allein vom Markt nicht bereitgestellt werden können.

Daher dürfen weder kurzfristige legislativen Vorgaben noch meist vierteljährlich orientierte Unternehmensvertreter einer langfristig angelegten staatlich verantworteten Bahnpolitik entgegenstehen. Der tägliche Verkehrsinfarkt auf den Straßen lässt hoffen, dass endlich erkannt wird, wie notwendig eine Renaissance des Bahnverkehrs ist und diese schließlich anerkannt wird. Es sollte nicht vergessen werden, dass Verkehrswege die Lebensadern einer Gesellschaft sind. Es liegt in der Verantwortung des Staates sicherzustellen, dass auch in weniger besiedelten Regionen wie der Uckermark, in der Sächsischen Schweiz und im Bayerischen Wald Züge verkehren können; denn dort ist auf den Markt kein Verlass.