Öffentliche und private Räume in der Antike

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Wenn das Forum einen öffentlichen Raum darstellte und die Kurie eine Art halböffentlicher Bereich war, könnte man annehmen, dass das römische Haus – ähnlich wie das griechische – der zentrale Ort für das private Leben gewesen sei. Dies trifft jedoch nur teilweise zu. Die Trennung zwischen dem Privaten und einem weiteren halböffentlichen Raum verlief mitten durch die Domus, das Wohnhaus wohlhabender Römer. Diese Gegebenheit war eng mit einer weiteren Eigenheit der römischen Gesellschaft verknüpft: Im Gegensatz zur griechischen Polis basierten die Bürgerbeziehungen in der römischen Republik auf Verhältnissen zwischen Personen, die nicht gesetzlich festgelegt waren und für Außenstehende kaum erkennbar blieben – Beziehungen zwischen Oben und Unten einerseits sowie unter Gleichen andererseits. Einfache Bürger standen in einem vertikalen Solidaritätsverhältnis zu den Höhergestellten, was die Römer als Klientel oder clientela bezeichneten.

Teil der Patronage, die Mitglieder der Elite über den Rest der Bevölkerung ausübten, war die rechtliche Vertretung vor Gericht, bekannt als patrocinium. Im Gegenzug war es die Pflicht der Klienten, ihren Patronen regelmäßig Respekt zu erweisen. Die tägliche “Begrüßung”, salutatio, der Klienten durch ihren Patron fand in dessen Privathaus statt. Der Hausherr empfing die Klienten im Tablinum, das an den zentralen Innenhof angrenzte, über den jedes römische Haus verfügte und sich im hinteren Teil der Domus befand: das Atrium. Üblicherweise war das Tablinum, in dem sich der massive Schreibtisch des Hausherrn aus oft Marmor befand, durch einen Vorhang vom Atrium getrennt, der beiseite gezogen wurde, sobald sich die Klienten im Innenhof versammelten.

Die Besucher gelangten ins Atrium durch die fauces, einen Flur, der den Innenhof mit dem Eingang verband. Wörtlich übersetzt bedeutet fauces „Rachen“, und tatsächlich verschlang der lange, schmale Korridor die Eintretenden wie eine Speiseröhre. Wer diesen Bereich passierte, befand sich gewissermaßen im sozialen Verdauungstrakt des Hauses, jedoch nicht in den privaten Räumen der Familie. Ess- (Triclinia) und Schlafzimmer (Cubicula) lagen auf beiden Seiten des Atriums; hinter dem Tablinum befand sich ein Garten, der später von Säulenhallen und weiteren Räumen umgeben war. Größere Häuser verfügten auch im Obergeschoss über private Räumlichkeiten. Dort war die Familie unter sich.

Das Mischen von Privatheit und Öffentlichkeit in der Domus beschränkte sich nicht nur auf den Morgenempfang der Klienten. Der Hausherr lud auch seine politischen Verbündeten, amici, ins Tablinum ein. Amicus bedeutete ursprünglich „Freund“, doch erstreckte sich diese Freundschaft weit über den privaten Bereich hinaus in das öffentliche Leben. Freunde verbanden gemeinsame Interessen und waren Alliierte im hochkompetitiven Feld der römischen Politik. Wer ein Amt anstrebte oder andere Ziele verfolgte, versammelte zunächst seine Freunde um den großen Schreibtisch im Tablinum. Nach getaner Arbeit zog man sich zum gemeinsamen Essen ins Triclinium zurück. Viele politische Intrigen dürften hinter den Mauern einer römischen Domus gesponnen worden sein; so mancher Coup im Senat wurde möglicherweise im Verborgenen eines häuslichen Tablinum vorbereitet.

Die meisten Städte im römischen Imperium glichen einem kleinen Rom. Dies galt insbesondere für die westlichen Provinzen, in denen vor der römischen Eroberung keine städtische Tradition existierte. Ob in Lyon, Trier, London oder Sofia: Wer zur einheimischen Oberschicht gehörte, strebte danach, wie ein Senator in Rom zu wohnen. Anders verhielt es sich weiter östlich: In Griechenland und Kleinasien sowie im Nahen Osten und Ägypten gab es eine lange bestehende und tief verwurzelte Stadtkultur, die allenfalls von Italien Anregungen erhielt, jedoch weitgehend ihre Eigenheiten bewahrte.

Wie viel Raum für Eigenheiten das Imperium bot, zeigt sich in der Stadt Dura-Europos am Euphrat in Mesopotamien, ganz am östlichen Rand der römischen Welt. Dura-Europos wurde um 300 v.Chr. von dem Seleukidenherrscher Seleukos I. Nikator gegründet. Rund 200 Jahre später, gegen Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr., eroberten die von Osten vorrückenden Parther die Stadt. Schließlich wurde Dura-Europos 166 n.Chr. römisch und wurde knappe hundert Jahre später 256 n.Chr. durch die Perser erobert und letztendlich zerstört. Nach der Gründung durch Seleukos ähnelte Dura-Europos allen griechischen Städten dieser Zeit: In der Mitte befand sich eine Agora mit viel öffentlichem Raum sowie ein rechtwinkliges Straßenraster ähnlich dem heutigen Manhattan; dazwischen lagen blockweise Wohngebäude. Die gleichen standardisierten Hofhäuser hätten ebenso in Milet oder Halikarnassos stehen können.

Mit dem Tag der parthischen Machtübernahme begann jedoch eine langsame Veränderung dieses Schemas: Zwar blieb das Schachbrettmuster bestehen, doch füllte sich der öffentliche Raum allmählich mit dicht nebeneinander stehenden Wohnbauten. Der klare Charakter der Blöcke ging mit der Zeit verloren: Häuser wurden geteilt oder durch Wanddurchbrüche verbunden; sie wurden abgerissen oder in neuer Form errichtet. Ein Papyrus aus Dura-Europos berichtet von den vier Brüdern Nikanor, Antiochos, Seleukos und Demetrios, die 88/89 n.Chr. ein zweigeschossiges Hofhaus von ihrem Vater erbten und per Los jeweils ein Viertel des Hauses zugeteilt bekamen. Jeder Bruder erhielt einen Raum im Erdgeschoss sowie die darüberliegenden Zimmer.

Umbauten waren unvermeidlich notwendig geworden, um die Gebäude an neue Bedürfnisse anzupassen. Die Großfamilie lebte fortan in einem Haus mit mehreren Eingängen zur Straße hin. Jede Teilfamilie hatte ihre eigenen Räumlichkeiten innerhalb eines Hauses, das als Einheit erhalten blieb. Verschiedene Teile der Großfamilie hatten Kontrolle über unterschiedliche Zugänge zum Haus. Solche Wohnstrukturen mit einem völlig anderen Verständnis von „privat“ und „öffentlich“ als das bekannte aus Hellas und Rom begegnen Archäologen nicht nur in Dura-Europos, sondern überall im Nahen Osten aus unterschiedlichen Epochen hinweg. Durch die römische Herrschaft am Euphrat änderte sich daran nichts.

Das Stadtbild hingegen wandelte sich grundlegend. In den 190er Jahren n.Chr. bezog eine Kohorte der römischen Armee Garnison in Dura-Europos, einer wichtigen Grenzfestung. Die Soldaten – insgesamt etwa 1000 Mann – kamen nicht von weit her: aus Palmyra, einer Stadt inmitten der syrischen Wüste gelegen. Sie stellten dennoch einen Fremdkörper dar. Die gesamte Nordhälfte von Dura-Europos wurde zur Kaserne erklärt und zum militärischen Sicherheitsbereich erklärt. Nicht nur Privathäuser wurden plötzlich unzugänglich; auch Tempel verschwanden hinter hohen Mauern und konnten nur mit speziellen Genehmigungen betreten werden. Dura-Europos hatte sich sichtbar zu einer Garnisonsstadt entwickelt.

Der Ausbau zur Garnisonsstadt war das deutlichste Zeichen dafür, wer nun vor Ort das Sagen hatte: Wer entscheidet, wo und wie gebaut werden kann, besitzt – um es mit den Worten des Soziologen Heinrich Popitz zu sagen – “datensetzende Macht”. Diese Form von Macht ist für ihn die subtilste aller Machtformen, da sie bestimmt, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen können; sie legt fest, wohin sie gehen dürfen und welche Wege ihnen versperrt sind – oft ohne dass sie bemerken, welcher Macht sie dabei ausgesetzt sind. Architektur stellt zudem ein wichtiges Mittel dar, um Handlungen vor Blicken zu verbergen sowie Privatheit und Geheimhaltung zu schaffen.