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Die Privatisierung von British Rail und die daraus resultierenden Konsequenzen

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Die überwiegende Zahl der Verkehrspolitiker in der Region blickt oft nach Großbritannien, wo der Schienenverkehr bereits vor vielen Jahren privatisiert wurde – mit weitgehend verheerenden Konsequenzen. „Auf ein Pferd zu wetten ist immer noch sicherer als auf einen Zug“ – die Verspätungen der Züge sind dort beinahe sprichwörtlich. Doch zwischen Brighton und Inverness gibt es weit mehr Probleme als nur die extreme Unpünktlichkeit der Züge. Nicht ohne Grund veröffentlichen auflagenstarke Tageszeitungen wie der Daily Mirror und die Daily Mail Serien von Artikeln, in denen die seltsamsten Alltagserlebnisse ihrer Leser in Verbindung mit dem „schlechtesten Bahnsystem Europas“ dokumentiert werden. Ähnlich wie bei der Deutschen Bahn erweist sich das Buchungssystem mit bis zu 16 unterschiedlichen Tarifen pro Strecke als äußerst unübersichtlich.

Darüber hinaus sind nur wenige Schaffner in der Lage, Informationen über verspätete oder ausgefallene Züge sowie über Anschlussverbindungen anderer Betreiber bereitzustellen. Für die britischen Bahnkunden bringt die Privatisierung jedoch noch gravierendere Nachteile mit sich: Seit dieser Umstellung sind die Durchschnittspreise, selbst unter Berücksichtigung von Sonderkontingenten, um etwa ein Viertel gestiegen, während die regulären Preise auf beliebten Strecken sogar um bis zu 245 Prozent zugenommen haben. Zudem klagen die Kunden über sinkende Qualitätsstandards.

Die Beschwerden über annullierte Züge, defekte Waggontüren, überfüllte Abteile und von Flöhen befallene Sitze führten sogar dazu, dass die Strategic Rail Authority dem Betreiber Connex den laufenden Lizenzvertrag für die Verbindungen des auch hierzulande tätigen Unternehmens in den Grafschaften Kent und Sussex kündigte. Diese Missstände sind teilweise auf die massive und langanhaltende Unterfinanzierung des britischen Bahnsektors seit Mitte der 1960er-Jahre zurückzuführen. Im Kern resultieren sie jedoch aus der Bahnreform, die Ende 1993 eingeleitet wurde – einer Turboprivatisierung ohnegleichen. Thatchers Nachfolger John Major vertrat die Ansicht „the business of government is [not] the government of business“ und lenkte im April 1994 das einst stolze Staatsunternehmen British Rail in eine private Abseitsposition. An diese britische Institution hatte sich nicht einmal Margaret Thatcher gewagt, obwohl sie während ihrer elfjährigen Amtszeit – so wird berichtet – lediglich ein einziges Mal mit der Bahn reiste. Unter ihrer Führung wurden lediglich Eisenbahnhotels sowie einige den Ärmelkanal bedienende Hovercraft-Fähren verkauft.

Der Transformationsprozess, den die Infrastrukturgesellschaft Railtrack innerhalb von sechs Jahren durchlief, hat dabei fast schon Lehrbuchcharakter: Bereits fünf Jahre nach dem Börsengang im Frühjahr 1996 musste das Unternehmen Insolvenz anmelden. Seit Oktober 2002 firmiert das faktisch (wieder) verstaatlichte Unternehmen unter dem Namen Network Rail, was hohe Kosten für die britischen Steuerzahler mit sich brachte.

Da die Zerschlagung des Bahnsystems bei vielen Führungskräften der Staatsbahn von Anfang an auf Widerstand stieß, zog die Regierung bei der Schaffung des Regulierungssystems zahlreiche externe Berater hinzu, die sich unter weitgehender Missachtung der Besonderheiten des Bahnsektors an schnell erzielbaren staatlichen Einnahmen orientierten. Insgesamt gab das Transportministerium gemeinsam mit British Rail, Railtrack und den privaten Ausschreibungsbewerbern Honorare von rund einer Milliarde Pfund Sterling für die Expertise von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Unternehmensberatungen und Anwaltskanzleien aus.

Durch die Implementierung von Wettbewerb sowie durch das Management des privaten Sektors und zusätzliche Investitionen sollte die Qualität und Effizienz des Bahnbetriebs gesichert werden. Die „schleichende“ Privatisierung, deren Beginn im Verkauf von 29 Eisenbahnhotels und des Hovercraft-Services über den Ärmelkanal im Jahr 1979 lag, wurde nun durch eine umfassende materielle Privatisierung abgelöst. Dabei wurde häufig auf die neu gegründete Schifffahrtsgesellschaft Sealink verwiesen, die als ehemals marodes Unternehmen innerhalb von drei Jahren wieder in die Gewinnzone geführt wurde und zuletzt für vier Milliarden Pfund Sterling an die in Göteborg ansässige Fährgesellschaft Stena Line verkauft werden konnte.

Die von der Regierung unter John Major eingeleitete Privatisierung von British Rail offenbarte bereits frühzeitig einen Personalabbau, der nicht den Prinzipien der sozialen Verträglichkeit folgte. Die Betreibergesellschaften verringerten die Anzahl der Angestellten von 46.845 im Jahr 1996 auf lediglich 38.234 innerhalb von nur fünf Jahren. Dies ist bemerkenswert, da bereits vor dem Start der Bahnreform, als Reaktion auf die Empfehlungen des Serpell Committee, seit Anfang der 1980er Jahre mehr als ein Drittel des damals bestehenden Personals in Zusammenarbeit mit der einflussreichen National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) als Einsparpotenzial identifiziert worden war.

Von ursprünglich 186.400 „Rounders“ im Jahr 1976 waren im Jahr 1993 nur noch 113.400 im Unternehmen tätig, was bedeutete, dass zwischen 1987 und 1993 die Arbeitsproduktivität, gemessen an den geleisteten Zugkilometern pro Mitarbeiter, um 17 Prozent anstieg und damit den höchsten Wert unter allen europäischen Bahngesellschaften erreichte. Während Fahrgäste und Mitarbeiter unter den politischen Fehlentscheidungen litten, zogen institutionelle und wohlhabende Privatanleger sowie die Manager Vorteile aus der materiellen Privatisierung der Betreiber- und Fuhrparkgesellschaften.

Die hohen Einmalerträge, die durch den Verkauf der drei Rolling Stock Companies (ROSCOs) erzielt wurden, kamen insbesondere den beteiligten Vorständen zugute: Sandy Anderson, der das Management-Buy-out der Porterbrook-Gruppe leitete, John Prideaux, der Angel Trains für 672,5 Millionen Pfund Sterling an die Royal Bank of Scotland verkaufte, und Andrew Jukes, der als führender Manager des Zugleasingunternehmens Eversholt tätig war, erhielten jeweils zweistellige Millionenbeträge. Zwischen 1996 und 1999 erzielten die ROSCOs eine jährliche Eigenkapitalrendite von 24 Prozent sowie eine Umsatzrendite von 70 Prozent. Neben der Fahrzeugflotte und den Reparaturwerkstätten wurde auch die Geschäftssparte Infrastrukturinstandhaltung an mehrere konkurrierende Firmen verkauft.

Der größte britische Logistikdienstleister English, Welsh & Scottish Railways Ltd. (EWS), der im Jahr 2007 von der Deutschen Bahn übernommen wurde und seit 2009 als DB Schenker Rail UK firmiert, erwarb die umsatzstärksten Frachtgesellschaften Rail Express Systems, Loadhaul, Transrail Freight und Mainline Freight. Ein zentrales Problem im „Mutterland der Eisenbahnen“ ist die Desintegration und Fragmentierung des Bahnsystems; Ken Loachs eindrucksvoller Film „The Navigators“ (2001) thematisiert dies ebenso eindrucksvoll wie dessen Auswirkungen auf die Beschäftigten. Zwischen 1994 und 1997 wurde British Rail nicht nur vertikal durch die Trennung von Infrastruktur- und Verkehrsbetrieb reorganisiert, sondern auch horizontal durch die Aufteilung in 106 Unternehmen, die innerhalb von sieben Jahren alle in private Hände überführt wurden.

Die integrative Kraft eines Eisenbahnsystems ist jedoch existenziell. Wenn ein Betreiber eines Zuges nicht auch über den Unterhalt seines Streckennetzes sowie über Signalanlagen, Fahrpläne, Bahnsteiglängen und Zuggrößen entscheidet – also einen Großteil seiner fixen Kosten beeinflussen kann –, wird sein Betrieb lediglich auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet sein und im Falle eines Misserfolgs die Verantwortung an andere weitergeben. Zudem stellte sich die Vergabe von 25 Betriebslizenzen als äußerst nachteilig heraus. Im Widerspruch zur erklärten Absicht, Wettbewerb zu fördern, wurden durch das Vergabeverfahren (1995–1997) Gebietsmonopole geschaffen.

So sind mittlerweile National Express, Arriva, Virgin/Stagecoach und die First Group für rund zwei Drittel der Reisekilometer verantwortlich und generieren mehr als 70 Prozent der Gesamteinnahmen im Schienenpersonenverkehr. Angesichts der hohen Einmalinvestitionen wird sich dieser Konzentrationsprozess in den kommenden Jahren weiterhin zuungunsten kapitalschwächerer Betreibergesellschaften fortsetzen. Konkurrenz entsteht für einen Betreiber derzeit nur dann, wenn sich Lizenzen geografisch überschneiden. Eine solche intramodale Wettbewerbsstruktur ist jedoch eine absolute Ausnahme: Wählt man irgendeine Stadt in Großbritannien als Ausgangspunkt für eine Reise, stellt man fest, dass es in der Regel nur eine Verbindung gibt – es sei denn, Geld und Zeit sind irrelevant.

Inzwischen haben die zuständigen Stellen zumindest begonnen, jeweils nur eine Betreibergesellschaft für die Züge eines bestimmten Londoner Bahnhofs zuzulassen. Hinzu kommt die lähmende Wirkung des Wettbewerbs auf dem Gesamtverkehrsmarkt. Durch die Vergabe zahlreicher Lizenzen an Busunternehmen haben diese in ausgewählten Regionen monopolartige Transportstrukturen geschaffen und können nun die Preise diktieren. So ist die europaweit agierende National Express Group mit 1.200 Busdestinationen innerhalb Großbritanniens auch Eigentümerin von mehr als einem Drittel der Betreibergesellschaften im nationalen Schienenverkehr.

Diese Gegebenheiten verdeutlichen, dass von echtem Wettbewerb nicht gesprochen werden kann. Daher bewerben sich Unternehmen im Rahmen des Vergabeverfahrens in der Regel um Konzessionen zum alleinigen Betrieb einer bestimmten Strecke oder eines bestimmten Netzes über einen längeren Zeitraum hinweg. Da letztlich regionale Monopole in Form von Streckenmonopolen vergeben werden, findet de facto kaum Wettbewerb statt.

Die eigentliche Konkurrenz besteht nach wie vor zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern – also zwischen Straßen-, Flug- und Schienenverkehr (wobei im Gütertransport auch die Binnenschifffahrt hinzukommt). Das Bahnunglück von Hatfield am 17. Oktober 2000 auf der stark frequentierten Ostküstenstrecke von London nach Leeds forderte vier Menschenleben und verletzte 70 weitere zum Teil schwer; es stellte einen Wendepunkt in der britischen Bahngeschichte dar. Während es bei früheren Unfällen in Southall und Paddington nahezu unmöglich gewesen war, klare Ursachen zu ermitteln oder konkrete Verantwortliche zu benennen, lag diesmal nach allgemeiner Auffassung der Experten die Unfallursache eindeutig in einem einzigen Faktor begründet: der mangelhaften interinstitutionellen Koordination infolge der Fragmentierung des Bahnsystems.

Obwohl der Riss am Schienenkopf, welcher für den Unfall verantwortlich war, bereits seit zwei Jahren bekannt war, blieb dessen Instandsetzung aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Railtrack – dem mit Wartungsaufgaben betrauten Subunternehmen Balfour Beatty – sowie dem für Erneuerungsmaßnahmen zuständigen Bauunternehmen Jarvis Fastline aus.

Im Rahmen der gerichtlichen Aufarbeitung musste die Führung von Railtrack eingestehen, dass sie weder den Zustand des Schienennetzes noch die damit verbundenen Gefahren richtig eingeschätzt hatte. Die desolate Verfassung des Trassennetzes zu jener Zeit wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Railtrack gezwungen war, 1.286 Streckenabschnitte als Langsamfahrstellen zu kennzeichnen und zahlreiche Trassen zu schließen – was katastrophale Folgen für den Bahnverkehr hatte. Noch zu Beginn des Dezembers 2000, also etwa zwei Monate nach dem Unglück, waren trotz ständig wechselnder Fahrpläne, die jeweils an der Streckenführung und -beschaffenheit orientiert waren, 55 Prozent der täglich 18.000 verkehrenden Reisezüge verspätet.

Das Fahrgastaufkommen fiel um ein Viertel, sodass staatliche Zuschüsse notwendig wurden, um Insolvenzen der Transportunternehmen abzuwenden. Kurzzeitig setzte die Fluggesellschaft British Airways auf der Strecke London–Manchester sogar Boeing 747 ein, um der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Die Handelskammer von London schätzt, dass im letzten Quartal des Jahres 2000 infolge des Bahnunglücks allein in der Hauptstadt 30 Millionen Arbeitsstunden verloren gingen und Produktivitätsverluste in Höhe von 600 Millionen Pfund Sterling verzeichnet werden mussten.

Nach wie vor ergibt sich ein komplexes Geflecht aus Betreibergesellschaften, den drei Zugleasingfirmen, dem Infrastrukturbetreiber Network Rail sowie mehr als 2.000 Subunternehmen, das selbst für die Beteiligten kaum noch nachvollziehbar ist. Verschärfend kommt hinzu, dass sowohl die Betreiber- als auch die Fuhrparkgesellschaften in kurzer Zeit eine möglichst hohe Rendite für ihre Aktionäre anstreben, indem sie Kosten durch Personalabbau und Investitionsrückhaltungen senken. Zudem wurden weitere Spielräume geschaffen, indem Kosten auf die Subunternehmer abgewälzt wurden.

Es hätte vorhergesehen werden können, dass dies die Koordination und Kohärenz eines komplexen Systems gefährden würde, in dem zahlreiche neue Geschäftseinheiten zusammenarbeiten müssen – insbesondere da die Betriebs- und Organisationsabläufe stark variieren. Während zu Zeiten von British Rail die Verantwortlichkeiten klar zugeordnet waren, führte die Fragmentierung zu einem zusätzlichen Bedarf an kostspieligen bürokratischen Abläufen – und nicht zu einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands, wie es die Befürworter der Privatisierungspolitik oft behaupten. Mehrere Kostenanalysen kommen zu dem Ergebnis, dass eine Umstrukturierung und Sanierung der Staatsbahn durch den Staat erheblich günstiger gewesen wäre.

Letztendlich wurde der britische Haushalt mit den Kosten für die Rückübernahme der Infrastruktur von Railtrack in Höhe von 500 Milliarden Pfund Sterling belastet. Darüber hinaus müssen nun jährlich mehrere Milliarden Pfund Sterling für die seit langem vernachlässigten Modernisierungen sowie den Ausbau und Erhalt des Schienennetzes aufgebracht werden – allein im Haushaltsjahr 2013/14 waren es 3,8 Milliarden Pfund Sterling. Bis heute ist nur ein Drittel des britischen Bahnnetzes elektrifiziert. Doch nicht nur die Steuerzahler müssen zur Kasse bitten; auch die Fahrgäste sind betroffen.

Seit der Privatisierung der Bahn im Jahr 1995 sind die Ticketpreise im Durchschnitt um 117 Prozent gestiegen, weshalb die Privatisierung des britischen Bahnwesens trotz nachträglicher Anpassungen nach wie vor auf breite Ablehnung stößt. Angesichts der Situation in Großbritannien erscheint auch der Übergang der Deutschen Bahn in eine Aktiengesellschaft zu Beginn des Jahres 1994 sowie ihr Verkauf an Investoren fragwürdig. Historiker weisen darauf hin, dass insbesondere Bahnprivatisierungen häufig politisch – wenn nicht sogar ideologisch – motiviert waren, da innerhalb kürzester Zeit hohe Einmaleinnahmen erzielt werden konnten, um kurzfristig klamme staatliche Kassen zu füllen.

So war beispielsweise die von John Major initiierte Privatisierung von British Rail im Jahr 1994 aus betriebswirtschaftlicher Sicht keineswegs zwingend; noch im Jahr vor der “Reform” hatte das Unternehmen 71 Prozent seiner Einnahmen aus Entgelten für Verkehrsleistungen erzielt – ein Wert, den in Europa damals nur die staatliche schwedische Eisenbahngesellschaft Statens Järnvägar übertraf.