Geschichte: Was hat der DDR-Geheimdienst in Schweiz gemacht?

An einem Septembervormittag im Jahr 1981 befragen zwei Beamte der schweizerischen Bundespolizei in Lugano einen deutschen Unternehmer. Die Bundesanwaltschaft hat gegen den 54-jährigen Mann ein gerichtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Spionage eingeleitet. Der gut gekleidete Herr mit dem amputierten Arm wird vier Stunden lang zu seinen geschäftlichen Verbindungen zur DDR und seinen Kontakten zum Ministerium für Staatssicherheit befragt.
Der Beschuldigte gibt vor, unwissend zu sein, bestreitet jegliche Beziehungen zur Stasi und versichert, nur legale Geschäfte mit der DDR zu tätigen. Diese Behauptungen sind jedoch schwer zu widerlegen, da es sich bei dem Verdächtigen um Ottokar Hermann handelt, der jahrzehntelang als eine Art Schweizer Vertreter des Ost-Berliner KoKo-Chefs Alexander Schalck-Golodkowski fungierte. Hermann, ein zwielichtiger Geschäftsmann und ehemaliges Mitglied der Waffen-SS, stand über viele Jahre im Fokus des schweizerischen Staatsschutzes, da er in den illegalen Handel mit Technologien im Ostblock verwickelt war, verdeckte Finanz- und Devisengeschäfte für die DDR abwickelte und geheime Konten verwaltete.
Durch die Unterstützung eines ehemaligen Stasi-IM wurde das Tessin zu einem der bedeutendsten Außenhandelszentren und Schmuggelrouten der DDR im Westen. Nach der Wende wurde ihm darüber hinaus vorgeworfen, sich in erheblichem Maße an den Vermögenswerten der DDR bereichert zu haben. Trotz der schwerwiegenden Vorwürfe und zahlreicher Indizien konnte dem dubiosen Kaufmann nie endgültig rechtlich das Handwerk gelegt werden. Eine Ausweisung aus der Schweiz drohte Hermann vor seiner Einbürgerung ebenfalls nie.
Ottokar Hermann, geboren 1926 in Znaim im Sudetenland, wurde als Jugendlicher zum Militärdienst einberufen. Er war Mitglied der Hitlerjugend und trat im Dezember 1943, im Alter von nur siebzehn Jahren, in die berüchtigte Waffen-SS ein. Als Unterscharführer (Unteroffizier) kämpfte er in der Aufklärungsabteilung der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“. Diese SS-Panzerdivision war für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich. Angehörige dieser Einheit verübten im Juni 1944 in Oradour-sur-Glane ein Massaker von trauriger Berühmtheit: Soldaten der Waffen-SS töteten dort 642 Menschen, fast alle Einwohner des französischen Dorfes. Ob Hermann in solche oder andere Kriegsverbrechen in Frankreich verwickelt war, ist jedoch nicht bekannt.
Im August 1944 befand sich seine Einheit auf dem Rückzug von der Westfront, als das Unglück geschah: Ein Granatsplitter verletzte Hermann so schwer, dass er seinen linken Arm verlor. Er wurde ins Reservelazarett Fritzlar bei Kassel gebracht. Nach dem Krieg geriet er in Österreich in amerikanische Gefangenschaft, aus der er im Februar 1946 entlassen wurde. Den Amerikanern hatte Hermann als Dolmetscher gedient. Nach dem Krieg ließ er sich in München nieder, wo er zunächst bei BMW und später beim Lokomotiven- und Panzerbauer Krauss-Maffei arbeitete. 1953 zog er nach West-Berlin, wo er ein Geschäft für Radio- und TV-Geräte eröffnete. Nach dessen Verkauf stieg der gelernte Kaufmann in den innerdeutschen Handel ein. 1962 ließ er sich im Tessin nieder. Dies geschah angeblich auf Anweisung seiner Verbindungsleute aus Ost-Berlin, um von der Schweiz aus die finanziellen Angelegenheiten der DDR zu verwalten. In Montagnola bei Lugano bezog er zusammen mit seiner Frau Gerda die „Casa Maroccana“, die einen Panoramablick auf den Luganer See und die piemontesischen Alpen bot. Das moderne Flachdachhaus, das er an bevorzugter Hanglage errichten ließ, wurde zu seinem neuen und langjährigen Wohnsitz. Später lebte er in einer prächtigen Villa im italienischen Stil, umgeben von einem dicht bewachsenen Park mit hohen Bäumen. Seinen Wohnsitz in West-Berlin behielt er bis in die Siebzigerjahre.
Im Hermann-Hesse-Dorf baute Ottokar Hermann, der teilweise als „forscher Draufgänger“ beschrieben wurde, eine bürgerliche Existenz auf: Er gab sich als seriöser, wohlhabender und kultivierter Geschäfts- und Ehemann, sammelte Briefmarken, fuhr einen blauen Mercedes 280 und bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn. Im Dorf war er gut integriert; er war Mitglied des örtlichen Fußballklubs und trat häufig als großzügiger Mäzen auf. So spendete er dem FDP-Orchester mit dem klangvollen Namen „Filarmonica Liberale Radicale della Collina d’Oro Gentilino“ in den Achtzigerjahren mindestens eine halbe Million Franken für die Sanierung eines Gebäudes mit Konzertsaal und Restaurant.
Was harmlos klingt, stellte sich als perfekte Fassade heraus: Vom Tessin aus steuerte Ottokar Hermann, der von der Stasi in den Sechzigerjahren unter dem Decknamen „Rohloff“ geführt wurde, ein internationales Netz von Tarnfirmen der DDR, das speziell zur Beschaffung von Devisen und Hochtechnologie eingerichtet worden war. Im Zentrum dieses Firmengeflechts standen die von Hermann kontrollierten Unternehmen mit Sitz in Lugano. An diesen Gesellschaften hielt Stasi-Oberst und stellvertretender KoKo-Chef Manfred Seidel bedeutende Beteiligungen. Die Intrac S.A. sowie deren Tochtergesellschaften in West-Berlin waren direkt an der Beschaffung von Hightech-Geräten und Embargowaren sowie an der Finanzierung solcher Umgehungsgeschäfte beteiligt. Die Befisa und deren Tochterunternehmen wurden zur Generierung von Devisen eingesetzt. Die Gewinne der Befisa-Gruppe flossen auf das sogenannte Mielke-Konto. Die Verwendung dieses Geldes oblag dem Chef des DDR-Staatssicherheitsdienstes, Erich Mielke. Nach seinen Vorgaben wurden die Gelder verwendet zur Finanzierung von Stasi-Operationen sowie zur Versorgung der SED-Spitze, welche in der Prominentensiedlung Wandlitz nahe Ost-Berlin lebte.
Ab Mitte der Siebzigerjahre strebte Ottokar Hermann die Erlangung der Schweizer Staatsbürgerschaft an, die ihm zehn Jahre später, 1985, verliehen wurde. Ein Jahr später soll seine Spende von einer halben Million Franken – aufgeteilt in fünf Tranchen – an das FDP-Orchester geflossen sein; sein Rechtsanwalt soll ihn dazu aufgefordert haben.
Als Dank für seine Großzügigkeit ernannte die Philharmonie Hermann 1991 zu ihrem Ehrenmitglied. Spartaco Arigoni, damals Vorsitzender der Philharmonie, hielt einen Zusammenhang mit seiner Einbürgerung jedoch für absurd.
Hermann schien ständig bereit zu sein zu spenden: Einem Krankenhaus in Lugano beschaffte er einen Rettungswagen samt hochmoderner Ausstattung; die Schule von Montagnola erhielt großzügige Geldmittel für ihre Bibliothek. Es wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass er sich mit Geld Freunde gekauft habe.
Die systematische Umgehung des Embargos, das den Westen daran hinderte, Hoch- und Militärtechnologie in den Ostblock zu liefern, gelang der DDR zu einem erheblichen Teil mithilfe von Firmen mit Sitz in der Schweiz. In diesem Kontext spielte Ottokar Hermann eine zentrale Rolle bei der Beschaffung von Hightech-Waren; faktisch agierte er als „Generalvertreter“ der DDR-Außenwirtschaft in der Schweiz. Bereits in den Sechzigerjahren war er als Lieferant von Embargowaren im Dienste der Stasi tätig gewesen. Von seinem Sitz bei Intrac S.A., gegründet 1970 an der Via Generale Guisan 16 in Lugano-Paradiso aus steuerte er ein weit verzweigtes Firmengeflecht von mindestens zwanzig Einzel-, Holding- und Tochtergesellschaften in Liechtenstein, Deutschland, West-Berlin und Österreich. Hermann wurde von den Behörden als skrupelloser Geschäftsmann und „Weißkragenkrimineller“ beschrieben; für diese Art von Arbeit schien er bestens qualifiziert.
Er verfügte über hervorragende Verbindungen bis tief hinein in die Ministerien der DDR und soll bereits in den Sechzigerjahren konspirative Kontakte zu späteren DDR-Ministerialbeamten wie Gerhard Beil und Jochen Steyer gepflegt haben. Entgegen seinen Aussagen während des Verhörs durch die Bundespolizei im Jahr 1981 hatte Hermann auch beste Kontakte zu hochrangigen Stasi-Mitarbeitern; dies belegen Staatsschutzakten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv. Demnach geriet er in den Sechzigerjahren ins Visier des bundesdeutschen Geheimdienstes, welcher ihn nicht ohne Grund des Spionageverdachts beschuldigte; das Verfahren wurde jedoch 1967 eingestellt.
Hermann genoss nicht nur das Vertrauen von KoKo-Chef Schalck-Golodkowski; auch stand er in engem Kontakt mit dessen Stellvertreter Manfred Seidel: Dieser langjährige Stasi-Mitarbeiter und Geheimdienstoberst war offiziell Aktionär an Befisa S.A. sowie Intrac S.A., wo er jeweils 93 bzw. 40 Prozent hielt; mehrfach hielt sich Seidel auch in der Schweiz auf.
Die Intrac in Lugano stellte zudem einen konspirativen Anlaufpunkt dar; hier trafen sich Reisekader aus den Außenhandelsabteilungen der DDR sowie Stasi-Offiziere regelmäßig. Die Akten aus dem Bundesarchiv offenbaren brisante Informationen: Obwohl die schweizerische Bundespolizei über Namen von Stasi-Agenten verfügte, die mit Intrac S.A. verbunden waren und über deren konspirative Aktivitäten spätestens seit Ende der Siebzigerjahre detailliert informiert war, gewährte die Schweizer Botschaft in Berlin bis weit in die späten Achtzigerjahre großzügig Einreisegenehmigungen an ostdeutsche Geschäftspartner von Intrac – darunter auch Stasi- und KoKo-Mitarbeiter –, sodass diese jahrelang legal nach Schweiz reisen konnten um dort unbehelligt ihren fragwürdigen Geschäften nachzugehen.
Die Häufigkeit ihrer Besuche lässt darauf schließen, dass sich die Kaderleute aus der DDR in der Schweiz sicher fühlten und hier keine Repressalien befürchten mussten.
Wie wichtig Intrac als Drehscheibe im Ost-West-Handel war zeigt folgende Zahl: Im Jahr 1979 schätzte die schweizerische Bundespolizei den Jahresumsatz von Intrac S.A. auf 400 Millionen Franken. Hermann verdiente prächtig am Geschäft mit dem vermeintlichen „Klassenfeind“; eigenen Angaben zufolge kassierte er bis zu 15 Prozent Provision dafür. Sein steuerpflichtiges Vermögen belief sich Ende der Siebzigerjahre auf 4,6 Millionen Franken; sein Einkommen betrug 350000 Franken jährlich.
Auf einem Konto bei einer Genossenschaftsbank Basel befanden sich Ende dieser Zeit sogar 80 Millionen Franken; dieses Geld rechnete die Bupo Hermanns Privatvermögen zu.
Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass es sich hierbei um ein geheimes Konto handelte, das Hermann treuhänderisch für die KoKo oder für die Stasi verwaltete; Manfred Seidel behauptete einst sogar, dass er selbst 200 Millionen DM im westlichen Ausland versteckt hatte – auch in der Schweiz –, wobei diese Gelder einzig dazu dienten sicherzustellen, dass im Falle finanzieller Schwierigkeiten seitens der DDR eine angemessene Versorgung gewährleistet sei.
Nach dem Fall des Mauer fand man auf einem Bankkonto des Schweizerischen Bankvereins (SBV) in Lugano rund 50 Millionen DM; Manfred Seidel hatte hierfür eine Einzelzeichnungsberechtigung inne.
Der SBV diente Hermann als Transferbank für zahlreiche dubiose Devisengeschäfte zugunsten KoKos; vom Seidel-Konto beim SBV Lugano wurden während den Siebziger- und Achtzigerjahren hohe Bargeldbeträge ausgezahlt – oft ohne Beleg: So ist unter anderem eine beleglose Auszahlung von einer Million DM dokumentiert – umgerechnet etwa 840000 Franken – im Mai 1982.
Die Milliardenbeträge für den Erwerb solcher Embargowaren wurden unter anderem durch den Bereich Kommerzielle Koordinierung erwirtschaftet – einer streng geheimen Abteilung innerhalb des Ministeriums für Außenhandel –, dessen Leitung weitgehend unter Kontrolle der Stasi stand: An dessen Spitze befand sich Alexander Schalck-Golodkowski – ein enger Vertrauter Erich Mielkes.
Anfang Dezember 1989 floh Schalck-Golodkowski – bekannt geworden als „Devisenbeschaffer“ für die DDR – schließlich in den Westen; dort fand er unter führenden Politikern von CDU und CSU sowie einflussreichen Unternehmern mächtige Fürsprecher.
Ottokar Hermann galt als Schalck-Golodkowskis „Statthalter“ in der Schweiz und stand somit unter direkter Aufsicht KoKos; um Embargowaren sowie Devisen im „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (wie Westeuropa im Jargon der DDR genannt wurde) zu beschaffen bediente sich dieser kommunistische Bauern- und Arbeiterstaat kapitalistischer Mittel – obwohl die Propagandamaschinerie nie müde wurde die westliche Wirtschafts- sowie Gesellschaftsordnung herabzuwürdigen.
Das nahezu unüberschaubare Finanz- sowie Wirtschaftsimperium KoKos umfasste zum Jahr des Mauerfalls mindestens 160 Handelsgesellschaften sowie Briefkastenfirmen weltweit – vom Panama-City bis Beirut.
Zum Portfolio des Tessiner Unternehmens Befisa gehörte unter anderem auch eine Ferienanlage namens „El Castillo“ auf Fuerteventura: Die vierhundert Ferienhäuser an Caleta de Fuste inklusive Hotel sowie Jachthafen ließ Ottokar Hermann Ende der Siebzigerjahre errichten.
Die Tentakel des KoKo-Wirtschaftssystems reichten tief hinein bis zur Schweiz – sogar bis hoch hinauf zu den Alpen – wo KoKo über Befisa Mitbesitzerin an Zermatter Standseilbahn Sunnegga war.”