Die Niederschlagung des antiken Nika-Aufstands
Am 13. Januar 532 n. Chr. wurde Konstantinopel von heftigen Unruhen heimgesucht. Der Hippodrom, wo jährlich zu den Iden des Januar unter großer Zuschauerbeteiligung Wagenrennen stattfanden, war das Zentrum der Krawalle. Drei Tage zuvor hatte Kaiser Justinian mehrere Männer festnehmen lassen, die bei den Spielen wiederholt Unruhe gestiftet hatten und als bekannte Rädelsführer bei Ausschreitungen galten.
Die Verhafteten waren nach einem kurzen Verfahren zum Tode verurteilt worden, jedoch versagte der Galgen bei zwei der Männer trotz mehrerer Versuche. Die Menge forderte lautstark die Begnadigung dieser beiden, was als ein Zeichen Gottes gedeutet wurde, doch die Behörden blieben hart. In der Folge kam es zu Unruhen auf den Straßen. Die Gefangenen wurden befreit und in ein Kloster gebracht, um sie zu schützen. Diese Ereignisse waren besonders bedrohlich, da sie von zwei hervorragend organisierten Gruppen mit großem Massenanhang getragen wurden: Die «Grünen» und die «Blauen» waren die beiden Zirkusparteien, die sich um die beiden bedeutendsten Rennställe im Hippodrom versammelt hatten. Ursprünglich gab es auch die «Weißen» und die «Roten», deren Einfluss jedoch bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. so stark gesunken war, dass sie nur noch als Juniorpartner der beiden großen Parteien fungierten. Die «Grünen» und die «Blauen» spalteten praktisch die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt – und darüber hinaus, denn sie hatten Filialen in allen Städten des Imperiums mit einem Hippodrom.
Da die Zirkusparteien in der Lage waren, Massen zu mobilisieren, hatten die Wagenrennen stets auch eine politische Dimension. Die Kaiser taten gut daran, sich nicht zu sehr auf eine der Parteien festzulegen. Vor seinem Amtsantritt im Jahr 527 n. Chr. hatte Justinian offen Sympathie für die «Blauen» gezeigt. Als Kaiser suchte er jedoch nicht nur Abstand zu halten, sondern ging auch entschieden gegen den weit verbreiteten Hooliganismus beider Zirkusgruppen vor. Daher war die Stimmung nach der Festnahme der Rädelsführer so explosiv. Die Zirkusparteien, die sich normalerweise gegenseitig verachteten, solidarisierten sich und aus dem Publikum ertönten kaiserfeindliche Rufe, als das Wagenrennen seinen Höhepunkt erreichte. Statt den Kaiser zu feiern, wurden die beiden Parteien der «Blauen» und «Grünen» verherrlicht – ein unverzeihlicher Affront.
Schnell breiteten sich die Unruhen vom Hippodrom auf andere Teile der Stadt aus. Die Menge stürmte den Palast des Stadtpräfekten und setzte ihn in Brand. Das Forum sowie die Hauptkirche der Stadt, der Vorgängerbau der heutigen Hagia Sophia, wurden ebenfalls Opfer der Flammen. Der Kaiser konnte die Unruhen nicht unter Kontrolle bringen, obwohl er auf Forderungen der Aufständischen einging und hochrangige Beamte entließ. Während Justinians General Belisar mit seiner Leibgarde versuchte, den Aufstand gewaltsam niederzuschlagen, verhielt sich ein Großteil der städtischen Garnison passiv. Schließlich wurde sogar ein Gegenkaiser proklamiert: Hypatios, ein einflussreicher Senator und Neffe des Ex-Kaisers Anastasios. Justinian drohte die Kontrolle vollständig zu entgleiten.
Inzwischen war es Belisar und anderen führenden Militärs gelungen, loyale Truppen von außerhalb in die Stadt zu bringen. Justinians Hofkämmerer Narses schürte Zwietracht unter den Aufständischen, indem er Schlüsselfiguren bei den «Blauen» bestach. In dem ausbrechenden Chaos stürmten kaiserliche Soldaten den Hippodrom und es brach eine Massenpanik aus, die 30.000 Menschen das Leben kostete. Der Aufstand, bekannt als «Nika-Aufstand», war beendet. Der Blutzoll war enorm, doch Justinian war gefestigter denn je.
Die Ereignisse sind rasch erzählt, aber schwer zu interpretieren. Leider wissen wir nicht genau, was hinter den Zirkusparteien steckte. Die Beschreibungen antiker Quellen, insbesondere von Prokop, sind oberflächlich und interessengeleitet. Die Parteien lediglich als Fanclubs der Rennställe zu betrachten, greift zu kurz. Viel mehr als heute im Fußball waren die Wagenrennen im spätantiken Konstantinopel eng mit Politik und Religion verknüpft. Waren die Parteien also Sammelpunkte für Anhänger konkurrierender christologischer Lehren? Häufig wird angenommen, dass die «Blauen» für jene standen, die an das Konzil von Nikaia und damit an die orthodoxe Trinitätslehre glaubten, während die «Grünen» für Monophysiten waren, welche nur an die göttliche Natur Jesu Christi glaubten.
Die Konfessionshypothese gilt heute als überholt. Der Althistoriker Mischa Meier vermutet sogar, dass Justinian bewusst Öl ins Feuer goss und einen Vorwand suchte, um gewaltsam gegen die senatorische Opposition um Hypatios vorzugehen. Betrachtet man den Aufstand rückblickend auf sein Ende hin, erscheint diese Annahme plausibel – aber ist das gerechtfertigt? Justinians Machtgewinn könnte auch eine zufällige Folge der Ereignisse im Januar 532 gewesen sein. Eine alternative Deutung hat daher der britische Althistoriker Michael Whitby vorgeschlagen: Er sieht in den Wagenrennen eine politische Bühne für das Volk – eine Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit dem völlig abgehobenen Kaiser in seinem Palast – wenn auch nur aus der Ferne. Immer wieder wurde der Hippodrom zum Schauplatz von Kaiserakklamationen unter lebhafter Beteiligung der versammelten Volksmenge; bei diesen Zeremonien spielten die Zirkusparteien eine zentrale Rolle.
Deshalb ließen sich schwache Kaiser oft dazu verleiten, sich einer Zirkuspartei durch besondere Gunst zu verpflichten, um deren Anhänger als Unterstützung auf den Straßen zu gewinnen. Dieser Weg wurde erstmals von Kaiser Theodosius II. (408–450 n. Chr.) beschritten, der dringend Unterstützung benötigte; auch einflussreiche Privatpersonen versuchten auf diese Weise Einfluss auf die Parteien zu gewinnen und ihre Interessen durchzusetzen. Möglicherweise dienten Kirchenmänner als Vorbilder, indem sie den gewaltbereiten Mob im Kampf gegen vermeintliche Häretiker sowie gegen Reste des Polytheismus mobilisierten und ihn durch Hasspredigten anstachelten. Sollte diese Annahme zutreffen, wären die Zirkusparteien hauptsächlich Hilfstruppen im politischen Machtspiel gewesen; ihre Patrone wären ehrgeizige Aristokraten oder sogar Kaiser selbst gewesen, die diese Parteien instrumentalisierten, um Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung zu gewinnen und politische Gegner zum Schweigen zu bringen.
Für Whitby erklärt sich aus dieser Rolle auch Justinians anfängliche Unterstützung für die «Blauen». Solange Justinian nicht Kaiser war sondern nur einer von mehreren aussichtsreichen Anwärtern auf den Thron war er auf die «Blauen» angewiesen gewesen; sie halfen ihm dabei Gewalt gezielt auf den Straßen einzusetzen bis seine Macht gefestigt war – danach schloss er mit brutaler Gewalt endgültig mit ihnen ab während er den Nika-Aufstand niederschlug.