Die Ameise und die Grille – Ein fortwährender staatlicher Einfluss?

Das Fehlen eines klaren Abschlusses bezüglich der staatlichen Ansprüche wird von vielen als nahezu unangemessen wahrgenommen. Wer der Meinung ist, dass die Zahlung der regulären Einkommenssteuern sowie die Abführung der geschuldeten Anteile an möglichen Erträgen oder Gewinnen aus Ersparnissen ausreichend ist, irrt sich. Im Falle von finanzieller Not muss eine Person, die etwas gespart hat, oft einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse aufbrauchen, um die gleichen Rechte wie jene zu erhalten, die keine Rücklagen gebildet haben. Wie sich dies auf eine betroffene Person auswirken kann, hat Manfred Bomm in seinem Roman “Beweislast” einfühlsam dargestellt.
Das Werk ist nicht nur ein fesselnder Kriminalroman, sondern zeigt auch eindrucksvoll, welchem Stress ein Mensch ausgesetzt ist, wenn er in Zeiten der Not und Arbeitslosigkeit all seine während des Arbeitslebens angesparten Mittel verliert, bevor er auf eine bescheidene Hartz IV-Rente angewiesen ist. In der Schweiz ist die Situation ähnlich: Wer im Alter pflegebedürftig wird, sieht zunächst seine Ersparnisse schrumpfen, bevor er finanziell gleichgestellt wird mit jenen, die keine Rücklagen haben.
Der Staat sollte sich hier an dem Prinzip der Fairness orientieren: Mit welcher Berechtigung fordert der Staat von den Sparern finanzielle Beiträge, während andere, die ihr Geld ausgegeben, konsumiert oder spekuliert haben, von einem solchen Druck verschont bleiben? Dieser Umstand sollte nicht verharmlost werden. Diese Ungleichbehandlung trägt dazu bei, dass Bürger einen Teil ihres Vermögens nicht offenlegen möchten. Das Fehlen eines verbindlichen Schlussstrichs unter die staatlichen Ansprüche wird von vielen als nahezu unanständig empfunden. Die Gewährung finanzieller Privatsphäre schützt in diesem Kontext nicht nur die Ultrareichen und wohlhabenden Personen, sondern auch den gewöhnlichen Mittelstand.
Sie bietet Schutz für Menschen, die einen Notgroschen zur Seite gelegt haben und versuchen, ihre Existenz abzusichern – sei es nach einer Scheidung oder einer Kündigung, die mit längerer Arbeitslosigkeit einhergeht, oder einfach im Alter. Ein verantwortungsvolles Familienoberhaupt sieht es als moralische Pflicht an, seinen Angehörigen auch in schwierigen Zeiten ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen. Konkret bedeutet dies häufig: Er oder sie wird einen Teil des Geldes außerhalb des staatlichen Einflussbereichs anlegen, sei es bei einer Bank oder anderswo. Diese Personen sind weder habgierig noch verachtenswert. Oft sind sie sogar sehr gesetzestreu und bereit, fällige Steuern zu entrichten. Dennoch werden sie durch die bestehenden Gesetze, die von den Bürgern vollständige Transparenz in finanziellen Angelegenheiten verlangen, in ein ernsthaftes Dilemma gedrängt.
Transparenz kann in diesem Zusammenhang dazu führen, dass der Staat Zwangsmaßnahmen problemlos durchsetzen kann. In dieser Situation entscheiden sich einige Sparer dazu, einen Teil ihrer Gelder nicht mehr dem Staat zu melden und betreten damit rechtlich gesehen einen problematischen Pfad. Ein verantwortungsbewusstes Familienoberhaupt empfindet es als moralische Verpflichtung, seinen Angehörigen auch in schwierigen Zeiten eine lebenswerten Existenz zu sichern. In der bekannten Fabel von der Ameise und je nach Tradition der Heuschrecke oder Grille lohnt sich das Arbeiten und Sparen der Ameise für den Winter. Dies gilt in allen bekannten Versionen, sei es das altgriechische Original von Äsop oder die neuere Fassung von Jean de la Fontaine.
Wie hart oder gnädig das Schicksal die Heuschrecke trifft, wird von den Autoren unterschiedlich dargestellt. Der humanitäre Geist orientiert sich zu Recht an den milderen Varianten. Doch die vorausschauend handelnde Ameise wird nirgendwo als Übeltäterin dargestellt, nur weil sie der Grille nicht ständig ihre Wintervorräte offenbart und diese nicht bedingungslos daran teilnehmen lässt. Plötzlich scheint jedoch unsere Realität die Fiktion zu überholen, denn in der wirklichen Welt findet dieser Rollentausch statt. Äsop und La Fontaine müssten offenbar ihre Fabeln neu formulieren.