“Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insbesondere das Grundrecht der Nutzer auf Meinungsfreiheit”

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Die Drittwirkung der Grundrechte stellt eine zentrale Herausforderung für die Jurisprudenz dar, da sie die Frage aufwirft, inwieweit die Grundrechte nicht nur zwischen Staat und Bürger wirken, sondern auch im Verhältnis zwischen privaten Personen. Es ist evident, dass die Anwendung der Grundrechte auf private Rechtsbeziehungen eine umfassendere Schutzgarantie für den Einzelnen bietet und gleichzeitig die gesellschaftliche Verantwortung stärkt. In diesem Sinne ist die Diskussion um die Drittwirkung nicht nur rechtlicher Natur, sondern berührt auch tiefgreifende ethische und gesellschaftliche Fragestellungen, die eine fortlaufende Neubewertung der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen erfordern.

Die Bedeutung der Drittwirkung der Grundrechte

Ein zentraler Aspekt der Drittwirkung der Grundrechte ist die Frage, wie Normen, die ursprünglich zur Abwehr staatlicher Eingriffe formuliert wurden, in den privaten Rechtsverkehr integriert werden können. Hierbei stehen verschiedene Modelle zur Diskussion: Während einige Juristen die Ansicht vertreten, dass Grundrechte unmittelbar zwischen Privatpersonen gelten sollten, argumentieren andere für eine normative Differenzierung, die den unterschiedlichen Interessen und Rechtsordnungen Rechnung trägt.

“Google/YouTube, hat das Video mehrfach gelöscht und diesen Eingriff in die Rechte der Nutzer auch noch vor Gericht verteidigt”

>>Die digitale Bevormundung von Joachim Steinhöfel (Buch) <<

“Es geht in einem Buch, das sich mit der Meinungsfreiheit befasst, nicht um die Frage, ob Sie Broders Meinung zustimmen oder ablehnen. Das ist vielmehr vollkommen egal. Kein vernünftiger Mensch, kein Demokrat, niemand, der es mit der Meinungsfreiheit ernst meint, wird sich auf den Standpunkt stellen, man dürfe einen solchen Kommentar löschen. Kein nüchtern denkender Mensch kommt auf den Gedanken, es könne sich um »Hassrede« handeln, diese Allerweltsfloskel, die immer wieder zur massenhaften Löschung freier Rede instrumentalisiert wird. Nur darum geht es. Und dennoch ist genau dies geschehen: Ein übermächtiger Monopolist, Google/YouTube, hat das Video mehrfach gelöscht und diesen Eingriff in die Rechte der Nutzer auch noch vor Gericht verteidigt. Aber, wie das Kammergericht in Berlin schon 2019 in einem von mir geführten Verfahren entschieden hat: »Eine Internetvideoplattform, die Nutzern auf der Grundlage eines Vertragsverhältnisses die Möglichkeit bietet, eigene Videoinhalte zum Abruf für Dritte einzustellen, hat bei der Anwendung ihrer Richtlinien in jedem Fall die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insbesondere das Grundrecht der Nutzer auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1GG), zu berücksichtigen«.

“Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insbesondere das Grundrecht der Nutzer auf Meinungsfreiheit”

Das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1958 stellt einen Meilenstein in der Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundrechte dar und verdeutlicht die verbindliche Wirkung der Meinungsfreiheit über den staatlichen Bereich hinaus. In diesem Urteil wurde entschieden, dass Grundrechte nicht nur rechts staatlicher Willkür dienen, sondern auch im Verhältnis zwischen privaten Akteuren von Bedeutung sind.

“Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft”

>>Freiheit in Gefahr von Hans-Jürgen Papier (Buch) <<

“1937 formulierte Benjamin N. Cardozo, Richter am amerikanischen Obersten Gerichtshof, den berühmten Satz, nach dem die Meinungsfreiheit Matrix und unabdingbare Voraussetzung aller anderen Arten von Freiheit sei. Mit anderen Worten: Alle anderen Freiheiten, insbesondere die Freiheit der Presse, der Wissenschaft und der Kunst, wären ohne sie nicht denkbar. Dieser Auffassung hat sich auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen. In seiner grundlegenden und wohl bedeutendsten Entscheidung zur Meinungsfreiheit des Grundgesetzes – dem sogenannten Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 – heißt es: »Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt […] Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist […] Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.« Angesichts dieser allgemeinen Wertschätzung sollten nicht nur Verfassungsrechtler hellhörig werden, wenn seit Jahren immer wieder gefordert wird, aufgrund von Hassreden, Shitstorms und der Zunahme von Fake News im Internet müssten wir die Meinungsfreiheit »neu denken«.

“Ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen”

Das Gericht stellte schon damals fest, dass die Freiheit der Meinungsäußerung nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch in sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen Bestand hat. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Interpretation von Grundrechten im privatrechtlichen Alltag und zeigt, wie die Gerichte eine Brücke schlagen können zwischen individuellen Rechten und staatlichen Pflichten. Die von Lüth angestoßene Diskussion führt zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit private Unternehmen und Einzelpersonen für die Wahrung von Grundrechten verantwortlich sind.

“Lüth-Urteil” – “Begründete damit die «Drittwirkung» der Grundrechte auch zwischen einzelnen Bürgern”

>>Geschichte des Westens von Heinrich August Winkler (Buch) <<

“Die zweite deutsche Demokratie wäre am Ende der Ära Adenauer nicht so gefestigt gewesen, hätte sich nicht das Bundesverfassungsgericht in den ersten zwölf Jahren seiner Existenz immer wieder als «Hüter der Verfassung» bewährt. … Es sanktionierte im Januar 1958 im legendären «Lüth-Urteil» einen Aufruf zum Boykott eines Films von Veit Harlan, dem Regisseur des nationalsozialistischen Hetzfilms «Jud Süß», als Ausfluß des Grundrechts auf Meinungsfreiheit und begründete damit die «Drittwirkung» der Grundrechte auch zwischen einzelnen Bürgern. Es durchkreuzte im Februar 1961 Adenauers Vorhaben eines privatrechtlich organisierten Regierungsfernsehens und verhinderte damit einen gouvernementalen Mißbrauch des Mediums Fernsehen. Wenn die Bundesrepublik in den sechziger Jahren auch von ihren Nachbarn als pluralistische, westliche Demokratie wahrgenommen wurde, war das nicht zum geringsten Teil ein Verdienst des Verfassungsorgans, das seit 1951 bestand und seinen Sitz in Karlsruhe hatte.”

“Es durchkreuzte im Februar 1961 Adenauers Vorhaben eines privatrechtlich organisierten Regierungsfernsehens”

Ein zentraler Punkt in der Debatte um die Drittwirkung der Grundrechte ist die Rolle der großen sozialen Netzwerke und Suchmaschinen, die in unserer digitalen Gesellschaft eine marktbeherrschende Stellung einnehmen. Diese Plattformen fungieren nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als sogenannter “Gatekeeper” des Informationsflusses. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Verantwortung dieser Unternehmen in Bezug auf die Gewährleistung von Grundrechten, insbesondere der Meinungsfreiheit und der staatlichen Neutralitätspflicht.

“Demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG vermögen Wahlen und Abstimmungen aber nur zu vermitteln, wenn sie frei sind”

>>Meinungsunfreiheit von Wolfgang Kubicki (Buch) <<

“Im Juni 2020 wies das Bundesverfassungsgericht Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU in die Schranken. Seehofer hatte auf der Internetpräsenz seines Ministeriums ein Interview veröffentlicht, in dem er hart gegen die AfD austeilte und deren Gebaren unter anderem als »staatszersetzend« bezeichnete. Die Karlsruher Richter kamen in einem lesenswerten Urteil zum Schluss, dass Seehofer seine Neutralitätspflicht verletzt und unzulässig in das Recht der AfD auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb eingegriffen habe: Demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG vermögen Wahlen und Abstimmungen aber nur zu vermitteln, wenn sie frei sind. Dies setzt nicht nur voraus, dass der Akt der Stimmabgabe frei von Zwang und unzulässigem Druck bleibt, sondern, auch, dass die Wähler­innen und Wähler ihr Urteil in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können.”

“Wähler ihr Urteil in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können”

Wenn Nutzer ihre Ansichten und Informationen über diese Kanäle verbreiten, muss sichergestellt werden, dass sie nicht in einer Weise zensiert oder benachteiligt werden, die gegen grundlegende Werte verstößt. Es ist unabdingbar, dass gesetzgeberische Maßnahmen entwickelt werden, um sicherzustellen, dass diese monopolartigen Akteure nicht nur als private Unternehmen wahrgenommen werden, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung tragen, die mit dem Schutz der Grundrechte einhergeht. Insbesondere kommt es darauf an, menschenrechtliche Standards wie die Meinungsfreiheit zu gewährleisten, die es ermöglichen, dass sowohl Inhaltsersteller als auch Nutzer ihre Rechte ungehindert ausüben können.