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Trotz gezahlter Beiträge – Wie Hartz IV die Arbeitslosigkeit zu einer privaten Angelegenheit machte

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Am 9. September 1982 wurde das Lambsdorff-Papier veröffentlicht, welches im Kontext der von Helmut Kohl versprochenen »geistig-moralischen Wende« zur Privatisierung der Arbeitsverhältnisse führte, die er bei seiner Amtsübernahme als Bundeskanzler im Herbst 1982 ankündigte. Das Motto der neuen Bundesregierung lautete angeblich: »Weniger Staat, mehr Markt«. Der Forderungskatalog, der als »Scheidungspapier« der sozialliberalen Koalition in die Annalen einging, richtete sich primär gegen die Reformen, die während der Kanzlerschaft Willy Brandts umgesetzt worden waren.

Der damalige einflussreiche Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP), der 2009 verstarb, verlangte in diesem Strategiepapier neben einer deutlichen Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose und einer Verwaltung der Arbeitslosenhilfe durch die Sozialämter insbesondere eine »Verbilligung des Faktors Arbeit« durch eine nachhaltige Reduzierung der Sozialleistungsquote. Die von einigen neoliberalen Anhängern als »Wohlfahrtsdiktatur« bezeichnete Sozialstaatsarchitektur sollte ad acta gelegt werden. Beim Studium des Memorandums stellt sich die Frage, ob es sich hierbei nicht um ein Drehbuch für die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialpolitik handelt, da die von den nachfolgenden Bundesregierungen umgesetzten Maßnahmen stark mit dem Handlungskatalog übereinstimmen.

Von einer zeitlichen Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate über die Einführung eines demografischen Faktors zur Einschränkung der Rentenhöhe bis hin zu einer stärkeren Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen listete das Lambsdorff-Papier nahezu alle ›sozialen Grausamkeiten‹ auf, die von den nachfolgenden Bundesregierungen realisiert wurden. Erst das unter dem Namen ›Hartz IV‹ bekannte Gesetzespaket der rot-grünen Koalition ging über den Forderungskatalog des damaligen FDP-Wirtschaftsministers hinaus, indem es die Arbeitslosenhilfe abschaffte und das an deren Stelle tretende Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfeniveau absenkte. Bereits die christlich-liberale Koalition (1982–1998) unternahm mehrfach Versuche, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und die Sozialleistungen zu kürzen.

Doch erst unter Kanzler Schröder wurden mit den Hartz-Reformen grundlegende Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik vollzogen – sehr zur Überraschung der Wähler, die in dem Glauben an eine Abkehr von der Privatisierung der Sozialpolitik die christlich-liberale Koalition abgewählt hatten. Die »sozialdemokratische Variante« des Abbaus und Umbaus des Sozialstaates war jedoch bereits im Wahlkampf angekündigt worden. Mit der »Neuen Mitte« orientierte sich die deutsche Sozialdemokratie an der britischen Labour-Partei, die bei den Parlamentswahlen am 1. Mai 1997 einen überwältigenden Sieg errungen hatte. Bezeichnenderweise wurden auch die Wähler der britischen »Arbeiterpartei« enttäuscht: Ausgerechnet am Tag der Arbeit wurde Tony Blair zum Premierminister gewählt, dessen Neuausrichtung der Partei in Richtung »New Labour« die sozialen Bedingungen für die arbeitende Bevölkerung verschlechterte, anstatt sie im Einklang mit den Traditionen seiner Partei zu verbessern.

Das am 8. Juni 1999 veröffentlichte »Schröder-Blair-Papier« sowie der darauf basierende Beschluss des Bundeskabinetts mit dem Titel »Moderner Staat – moderne Verwaltung«, welche das Leitbild eines »aktivierenden Sozialstaates« formulierten, begründeten eine ideologische Neuausrichtung in der Arbeitsmarktpolitik. Ein entscheidender Beitrag zur Geringschätzung des westeuropäischen Wohlfahrtsstaates wurde von Schröders Wahlkampfstratege Bodo Hombach geleistet, der innerhalb der SPD äußerst umstritten war.

Bereits im Wahlkampf hatte der »Kanzlerflüsterer« mit seinem Buch »Aufbruch – Die Politik der Neuen Mitte« in den parteiinternen Machtkampf zwischen den »Modernisierern« und den »Traditionalisten« eingegriffen. Mit Hombachs Ernennung zum Chef des Kanzleramtes schuf Schröder ein machtpolitisches Gegengewicht zu dem innerhalb der Partei beliebteren Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, um den »Dritten Weg« in Richtung eines schlanken (Sozial-)Staates einzuschlagen. Nachdem Willy Brandts Erbe, von einer britischen Boulevardzeitung als »gefährlichster Mann Europas« bezeichnet, von allen Ämtern zurückgetreten war, war der Machtkampf zugunsten Schröders entschieden worden; dieser ersetzte nach kurzer Zeit den polarisierenden Hombach durch Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der heutige Bundesaußenminister hatte bereits dem »Brioni«-Kanzler in der niedersächsischen Staatskanzlei gedient und war maßgeblich an der Konzeptionierung sowohl der Hartz-Reformen als auch der »Agenda 2010« beteiligt.