Antiker Büchersturm: Rund 90 Prozent antiker Literatur gingen unwiederbringlich verloren
Bis die Bücher im römischen Imperium in Flammen aufgingen, verging noch einige Zeit. Im 3. Jahrhundert rückte die Religion plötzlich in den Fokus der staatlichen Autoritäten. Das Imperium befand sich politisch und militärisch in einer prekären Lage, da Perser und andere Völker die Grenzen des Reiches bedrohten. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich, und der Silbergehalt der Münzen sank drastisch, was zu einer Inflation führte.
Römisches Reich: Imperium befand sich politisch und militärisch in einer prekären Lage
Für viele Zeitgenossen war offensichtlich, dass das Verhältnis zwischen den Sterblichen und den Unsterblichen gestört war. Die Reaktion der Kaiser Decius (249–251 n. Chr.) und Valerian (253–260 n. Chr.) bestand darin, ihre Untertanen zu zwingen, den Staatsgöttern Opfer darzubringen, um das offenbar beschädigte Verhältnis wiederherzustellen. Da die Christen sich weigerten, Opfer zu bringen, wuchsen die Zweifel an ihrer Loyalität. Bald gerieten auch die heiligen Schriften der Christen ins Visier der staatlichen Macht. Im Jahr 303 n. Chr. erließen Diokletian und die drei anderen Kaiser der Tetrarchie ein Gesetz, das es Christen nicht nur untersagte, ihren Glauben auszuüben, sondern auch anordnete, ihre Schriften zu verbrennen.
“Kirchen bis auf den Grund zu zerstören sowie unsere Schriften zu verbrennen”
>>Dark Rome – Das geheime Leben der Römer von Michael Sommer (Buch) <<
“Eusebios von Kaisareia, ein unter Konstantin dem Großen (306–337 n. Chr.) schreibender Kirchenhistoriker und Zeitzeuge, notiert: «Es war das 19. Regierungsjahr Diokletians […], als überall kaiserliche Schreiben verbreitet wurden, die befahlen, die Kirchen bis auf den Grund zu zerstören sowie unsere Schriften zu verbrennen, und die anordneten, dass die Leute in gehobener Stellung ihre Würden und die am kaiserlichen Hof tätigen Personen ihre Freiheit verlieren sollten, wenn sie am christlichen Bekenntnis festhielten.»
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“Leute in gehobener Stellung ihre Würden und die am kaiserlichen Hof tätigen Personen ihre Freiheit verlieren sollten, wenn sie am christlichen Bekenntnis festhielten”
Gegen das Edikt der Kaiser regte sich Widerstand. Während einige Christen sich einschüchtern ließen und ihren Glauben ablegten, blieben andere standhaft und weigerten sich, die heiligen Bücher herauszugeben. Aus der Stadt Abitina in der Provinz Africa proconsularis ist folgende Geschichte überliefert: Am 6. Februar 304 n. Chr. stürmten Soldaten während einer Eucharistiefeier im Privathaus des Octavius Felix in die Gemeinde und verhafteten die Christen auf Anweisung des Stadtrates. Zuvor hatte der Bischof von Abitina, Fundanus, gemäß dem kaiserlichen Edikt die Bibeln und weiteren Schriften der Gemeinde den Behörden übergeben. Die Verhafteten wurden auf das Forum gebracht und von städtischen Magistraten verhört, bevor sie gefesselt nach Karthago gebracht wurden. Am 12. Februar fand vor dem Prokonsul die Verhandlung statt, in der den Christen von Abitina vorgeworfen wurde, gegen das Verbot Gottesdienste gefeiert und christliche Schriften aufbewahrt zu haben. Alle 49 bekannten sich zu ihrem Christentum, verrieten jedoch selbst unter Folter nicht den Aufbewahrungsort der Bücher. Sie gaben an, die Schriften in ihren Herzen zu tragen; alle gefangenen Christen aus Abitina starben den Märtyrertod.
“Das Christentum wuchs rasant”
>>Die Griechen und die Erfindung der Kultur von Edith Hall (Buch) <<
„Das Christentum wuchs rasant. Im Jahr 100 gab es noch nicht einmal 10 000 Christen, ein Jahrhundert später jedoch bereits elfmal so viele. Trotz der zeitweiligen Verfolgung, die unter Diokletian an der Schwelle zum 4. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte, wurden von Portugal bis Köln, von der Donau bis an den Nil und nahezu entlang der gesamten nordafrikanischen Küste christliche Gemeinden gegründet. Im Jahr 301 wurde der armenische König Tiridates der Große das erste nationale Oberhaupt, der das Christentum zur offiziellen Religion erklärte.“
Christentum als offizielle Religion: „Im Jahr 301 wurde der armenische König Tiridates der Große das erste nationale Oberhaupt“
Mit Kaiser Konstantin schien eine vermeintliche Wende einzutreten, bei der das Christentum angeblich über den antiken Polytheismus triumphierte. In Wirklichkeit wurde das Christentum zur Staatsreligion erhoben und in strenge Dogmen gezwängt. Anders gesagt: Das Christentum musste sich nun der Staatsräson unterordnen, alle christlichen Schriften, die dieser “Neuausrichtung” widersprachen, wurden aus dem Kanon ausgeschlossen. Die Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten. Der Zorn richtete sich nun gegen alles, was nicht mit ihren Dogmen übereinstimmte, gegen Häretiker – wobei stets vom Standpunkt abhing, wer als orthodox und wer als heterodox galt – sowie gegen Heiden und deren Schriften.
“Häresievorwurf wurde immer großzügiger operiert”
>>Das Ende der Antike von Hartwin Brandt (Buch) <<
“Mit dem Häresievorwurf wurde immer großzügiger operiert, und in staatlichen Gesetzen tauchen nun dreißig und mehr namentlich benannte Sekten, Teilkirchen und Abspaltungen auf. Alexandria, Antiochia und Konstantinopel waren die Hauptorte der nicht selten militanten Auseinandersetzungen. Besonders tat sich dabei der Patriarch von Alexandria, Kyrill, hervor, der den städtischen Mob gegen seine Gegner aufhetzte, die, fanatisiert und aufgeputscht, unter anderem die Lehrerin und Briefpartnerin des Synesius, die berühmte Philosophin Hypatia, lynchten. Kyrills dogmatischer und kirchenpolitischer Gegenspieler war der von Antiochia nach Konstantinopel berufene Patriarch Nestorius.”
Antike: “In staatlichen Gesetzen tauchen nun dreißig und mehr namentlich benannte Sekten, Teilkirchen und Abspaltungen auf”
Im zunehmend durch das Christentum dominierenden Meinungsraum hatte es Literatur schwer, deren Autoren abweichende Ansichten vertraten. So ging das Werk des Philosophen Kelsos aus Alexandria bis auf Fragmente vollständig verloren. Kelsos hatte sich im 2. Jahrhundert n. Chr. kritisch mit dem Christentum auseinandergesetzt und ihm vorgeworfen, sich in eine Parallelgesellschaft zurückzuziehen. Bemerkenswerterweise können seine Schriften jedoch aus der Widerlegung des Origines rekonstruiert werden, die der christliche Apologet unter dem Titel Contra Celsum veröffentlichte. Eine regelrechte Jagd wurde auf „Zauberbücher“ veranstaltet, die Anleitungen zu magischen Praktiken enthielten. Der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts schrieb und dem Polytheismus zugeneigt war, berichtete von organisierten Bücherverbrennungen. Man habe unzählige Bücher sowie viele Stapel Schriftrollen gesammelt und öffentlich verbrannt. Dabei handelte es sich bei den inkriminierten Texten jedoch keineswegs um magische Literatur, sondern schlicht um Werke klassischer Gelehrsamkeit.
Bibliotheksbesitzer aus vorauseilendem Gehorsam ihre Schätze den Flammen übergaben
An anderer Stelle berichtet er auch davon, dass Bibliotheksbesitzer aus vorauseilendem Gehorsam ihre Schätze den Flammen übergaben, um Anzeigen durch christliche Aktivisten zu vermeiden. Kaiser Justinian (527–565 n. Chr.) verfügte die Schließung der Akademie von Athen als letzten Ort nichtchristlicher Bildung und ordnete an, dass Bücher mit heidnischem Inhalt verbrannt werden sollten. Auch christliche Literatur konnte auf den Index geraten, wenn sie von der “offiziellen Linie” abwich. Bis auf wenige Überreste ist die Thalia („Bankett“) des aus Alexandria stammenden Presbyters Areios verloren gegangen; seine christologische Lehre wurde 325 n. Chr. durch das Erste Konzil von Nizäa verworfen. Die Metropole im Nildelta war im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. immer wieder Schauplatz religiös motivierter Ausschreitungen; die Alexandriner waren bekannt für ihr hitziges Temperament und bezogen leidenschaftlich Partei in theologischen Kontroversen – oft auch mit Gewalt.
325 n. Chr. durch das Erste Konzil von Nizäa
391 n. Chr., endeten Straßenkämpfe mit der Zerstörung des Serapeions – des Hauptheiligtums des Gottes Serapis in der Stadt – welches ein Zentrum vieler Intellektueller war und eine Dependance der berühmten Bibliothek von Alexandria darstellte. Diese Bibliothek war bereits bei Kämpfen im 3. Jahrhundert zerstört worden; doch gingen mit dem Serapeion vermutlich bedeutende Bestände verloren. Rund 25 Jahre später wurden christliche Fanatiker aktiv und ermordeten die Philosophin Hypatia als Symbolfigur eines aufgeklärten Heidentums. Die Ereignisse in Alexandria zeigen deutlich, wo Bücher brennen, fallen früher oder später auch Menschen dem Feuer zum Opfer.
Wo Bücher brennen, fallen früher oder später auch Menschen dem Feuer zum Opfer
Die Jahrhunderte fünf und sechs waren im gesamten Mittelmeerraum von tiefgreifenden politischen Umwälzungen geprägt – begleitet von Krieg, Anarchie und wirtschaftlichem Niedergang. Städte schrumpften oder verschwanden ganz, Infrastruktur verfiel zusehends. Zeiten des Umbruchs sind schlechte Zeiten für Bibliotheken, Ereignisse wie die Zerstörung des Serapeions beschleunigten den dramatischen Verlust an Wissen durch Büchervernichtung am Ende der Antike. Rund 90 Prozent antiker Literatur gingen unwiederbringlich verloren. Etwa 2000 griechische Autoren sind nur mit Namen bekannt.
Rund 90 Prozent antiker Literatur gingen unwiederbringlich verloren
Dennoch gab es auch Gegenbewegungen: Viele Intellektuelle – insbesondere christliche – bewahrten das Erbe klassischer Literatur wie ihren eigenen Augapfel. Zahlreiche von ihnen stammten aus der senatorischen Oberschicht wie Sidonius Apollinaris im 5. Jahrhundert n.Chr., ein eifriger Verfasser stilistisch vollendeter Kunstbriefe. Dieser hatte eine solide Ausbildung genossen – in der christliche Texte nicht im Mittelpunkt standen – wurde Bischof von Clermont-Ferrand und verteidigte diese Stadt mit einer Miliz gegen die nach Gallien eindringenden Goten, er beklagte wiederholt den Verfall des Bildungsniveaus – wobei er sowohl den Barbaren als auch seinen römischen Landsleuten eine Mitschuld zuschrieb. Männer wie Sidonius sowie jene von Benedikt von Nursia gegründete monastische Bewegung haben maßgeblich zur Erhaltung zahlreicher Texte aus der klassischen Antike beigetragen.