Antike Seefahrt: Auf endloser Fahrt bis ans Ende der Welt

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Eines der größten Rätsel in der Geschichte der antiken Literatur umgibt den Dichter Ovid, Autor von Amores und Ars amatoria. Im Jahr 8 n. Chr., dem gleichen Jahr wie die jüngere Julia, wurde auch der prominente Poet des augusteischen Zeitalters ins Exil verbannt. Während Ovid auf der Insel Elba verweilte, erhielt er die Nachricht, dass er Rom verlassen und sich in die Stadt Tomi am Schwarzen Meer begeben müsse – praktisch ans Ende der Welt für jemanden, der den Großteil seines Lebens in der Hauptstadt verbracht hatte. Die Verbannung stellte jedoch kein Ende für Ovids literarisches Schaffen dar. Der Dichter verfasste fünf Bücher Tristien und vier Bücher Briefe Ex Ponto – vom Schwarzen Meer – an die Zurückgebliebenen. In diesen Werken thematisiert er die Bitterkeit des Exils und verknüpft eindringliche Hilferufe mit der Bitte um Gnade.

Welcher Umstand letztlich zu seinem Schicksal führte, deutet Ovid nur an. Ein carmen und ein error seien ihm zum Verhängnis geworden, ein Gedicht und ein Fehltritt. Das Gedicht kann nur die kurz vor der Verbannung vollendete Ars amatoria sein, doch es ist kaum anzunehmen, dass dies der wahre Grund für Ovids Entfernung aus Rom war. Sicher enthält die Ars anstößige Passagen, und Augustus dürfte wenig erfreut gewesen sein, als er die Ratschläge las, die der Dichter humorvoll gab und die auch als Anleitung zum Ehebruch interpretiert werden konnten, während er selbst versuchte, den Eliten moralische Werte zu vermitteln. Andererseits war der Kaiser in der Kunst ausreichend bewandert, um zu erkennen, dass Ovid in seinen Versen mit verschiedenen Genres experimentierte und Kennern literarische Delikatessen bot.

Es ist daher wahrscheinlicher, dass Ovids Werk einen willkommenen Vorwand für seine Verbannung nach Tomi lieferte. Möglicherweise war der Dichter in Ungnade gefallen, weil er enge Beziehungen zur jüngeren Julia hatte oder Einblick in ihr unordentliches Liebesleben gewonnen hatte? Oder war er gar in eine Verschwörung verwickelt, in die auch Julia hineingezogen worden war? Ovid selbst schweigt über die Einzelheiten, weshalb wir weiterhin spekulieren werden, was Augustus dazu bewog, den bedeutendsten Dichter seiner Zeit ins Exil zu schicken. Eines jedoch teilt uns Ovid mit: Amor begleitete ihn auch nach Tomi. In einem seiner Briefe vom Schwarzen Meer lässt der Dichter sich im Traum einen Dialog mit dem Gott der Liebe führen: “Da stand Amor, mit anderer Miene als einst”, leitet Ovid das Gespräch sinngemäß ein.

Der Knabe ist ungeschmückt, seine Haare hängen ihm ins Gesicht, auch seine Schwinge erschien struppig zerzaust meinem Blick. Ovids lyrisches Ich beschwert sich bei Amor, dem er die Schuld an seinem Unglück zuschreibt. Anstatt Heldengedichte zu verfassen, habe er Amor Verse gelehrt – und sich so den Zorn des Herrschers zugezogen. Amor entgegnet ihm, es seien nicht nur die Verse gewesen, die Ovids Schicksal besiegelt hätten – diese seien schließlich unschuldig, während cetera, andere Dinge, nicht entschuldbar seien. «Dennoch», spricht Amor, «damit ich den Niedergebeugten erblicke und tröste,/trugen auf endloser Fahrt mich meine Schwingen zu dir.» Der Gott verheißt dem Dichter ein Ende seiner Verbannung. In der Realität blieb Ovid jedoch das glückliche Ende versagt: Er starb einige Jahre nach Augustus im fernen Tomi.

Interessanterweise unterließ Augustus es, Ovid mit einem Publikationsverbot zu belegen. Der Dichter wurde verbannt, aber nicht annulliert. Seine poetischen Hilferufe vom Schwarzen Meer durften in Rom veröffentlicht und gelesen werden. Auch die Ars amatoria wurde nicht auf den Index gesetzt. Augustus sprach zwar der Zensur keine generelle Absage – die ihm angeblich beleidigenden Schriften eines Titus Labienus ließ er verbrennen – dennoch brach er nicht grundsätzlich mit der Tradition der Republik, die stets Wert auf Liberalität im Umgang mit dem geschriebenen Wort legte. Zwar hatte das älteste römische Rechtswerk, das um 450 v. Chr. entstandene Zwölftafelgesetz, Spottverse unter Strafe gestellt, jedoch konnten vierhundert Jahre später Catull und Cicero ungeniert gegen die Mächtigen der res publica agieren. Selbst unter Caesar galt: Zensur findet nicht statt.

Das sollte jedoch nicht so bleiben. Unter den Nachfolgern des Augustus mussten Autoren durchaus darüber nachdenken, ob ein Werk möglicherweise ihnen selbst Schwierigkeiten bereiten könnte. Fühlte sich der Kaiser in seiner Würde angegriffen, konnte dies bereits unter Tiberius Anklagen wegen Majestätsbeleidigung nach sich ziehen – laesae maiestatis –, die mit dem Tod bestraft wurden. Der bedeutendste Historiker der römischen Kaiserzeit, Tacitus, der unter den Adoptivkaisern Trajan und Hadrian schrieb, zögerte wohl aus gutem Grund davor zurück, seiner Gegenwart eine eigene Darstellung zu widmen. Es schien weniger riskant zu sein, sich mit weiter zurückliegenden Ereignissen auseinanderzusetzen. In seinem kurzen Traktat Dialog über die Redner lässt Tacitus den Dichter Maternus über die vergangene Freiheit reflektieren: Mit ihr habe auch die Redekunst ihre Daseinsberechtigung verloren.

Generell war man in der Kaiserzeit schnell darin, Spuren jüngerer Vergangenheit zu verwischen – immer dann nämlich, wenn man mit ihr gründlich abschließen wollte. Über Kaiser wie Caligula, Nero, Domitian, Commodus, Caracalla und Elagabal brachen Zeitgenossen den Stab kaum hatten sie sich aus dieser Welt verabschiedet. Hatte sich einmal die Erkenntnis durchgesetzt, dass der gerade verstorbene ein „schlechter“ Kaiser war, wurden seine Gesetze annulliert, seine Statuen gestürzt und sein Name aus Inschriften getilgt. Da jeder Meilenstein selbst an unbedeutendsten Straßen den Namen des römischen Kaisers trug, flossen erhebliche Ressourcen in das Ausmeißeln von Namen. Es wurde also beträchtlicher Aufwand betrieben, um Gedächtnissanktionen gegen Kaiser zu verhängen, die sich nicht wehren konnten. Über das Warum muss man nicht lange nachdenken. Wo ein schlechter Kaiser herrscht, sind möglicherweise Tausende als Mitläufer involviert: Männer wie Tacitus, der zwar Domitian (81–96 n. Chr.) scharf kritisierte, aber dennoch unter dem misstrauischen wie grausamen Despoten Karriere machte. Wendehälse lassen sich ungern vom schlechten Gewissen plagen.