Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung: Worüber handelt es sich eigentlich?

Es bleibt vollkommen unklar, welche Absichten die Behörden mit den Informationen verfolgen können, die ihnen zunehmend über den automatischen Informationsaustausch zur Verfügung stehen. Der einzelne Bürger muss sich – wie erläutert – darauf einstellen, dass die Daten über ihn nicht lediglich zur Überprüfung seiner Steuerehrlichkeit verwendet werden. Sollten die Behörden nur Informationen über inländische Konten erhalten, führt dies nicht zu dem offiziell angestrebten Ziel.
Denn ein unehrlicher Bürger hat es leicht, Konten in anderen Ländern zu eröffnen. Daher soll auch dies unterbunden werden. Infolgedessen hat sich die Politik mehrere Nachteile eingehandelt: Zum einen werden der Gesellschaft zusätzliche Kosten auferlegt, ohne dass sich der Steuerertrag in nennenswertem Maße erhöht. Neben dieser bereits fragwürdigen Entwicklung schafft die Politik die Grundlage dafür, dass der Staat auch in einen sehr privaten Bereich des Lebens ehrlicher Bürger Einblick nimmt.
Auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kann eine solche Vorgehensweise Konsequenzen nach sich ziehen. Sie könnte die Kapitalflucht aus dem Land begünstigen und diese in weniger qualitativ hochwertige Finanzplätze lenken. Dies sollte jedoch jede vernünftige Finanzpolitik grundsätzlich verhindern. Denn jede Regierung sollte bestrebt sein, ein attraktives Umfeld für Anlagen und Investitionen zu schaffen, um auf dieser Basis den Wohlstand innerhalb der eigenen Volkswirtschaft zu fördern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass den Menschen im Land generell untersagt werden sollte, Vermögen im Ausland zu halten.
Das Maß der Abflüsse stellt einen guten Indikator für das Vertrauen in die politische Situation eines Landes dar. Fließen vermehrt Gelder ins Ausland, sollte die politische Lage verbessert werden und nicht durch Zwangsmaßnahmen die Abflüsse gestoppt werden. Das Kapital der Bürger im Ausland sollte auch als eine Art „Rückversicherung“ betrachtet werden: Wenn ein Land durch verantwortungslose Machthaber erschüttert wird, die zur Vernichtung der offen zugänglichen Vermögenswerte führen, kann mit den im Ausland deponierten Geldern wenigstens wieder Aufbauarbeit geleistet werden. Dies ist leider kein zynisch-theoretischer Denkansatz, sondern für viele Länder weltweit eine bittere historische Realität geworden.
An dieser Stelle sei beispielsweise an das deutsche Wirtschaftswunder nach dem letzten Weltkrieg erinnert, das keineswegs nur durch den Kapitalzufluss über den bekannten Marshallplan ermöglicht wurde. Es erhielt auch wesentliche Impulse durch Vermögenswerte, die rechtzeitig vor dem Naziregime in Sicherheit gebracht wurden und heute als Schwarzgelder bezeichnet würden. Es gibt Belege dafür, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg Gelder mit offizieller Ausfuhrgenehmigung in die Schweiz und nach Liechtenstein transferiert wurden.
Die betreffenden Familien haben damit zweimal nach verheerenden Weltkriegen zum Wiederaufbau des Landes beigetragen. Dennoch sehen sich die Inhaber heute teilweise unangenehmen Fragen gegenüber. Wenn man die von Kriegen und gescheiterten Ideologien geprägte Geschichte näher betrachtet, sollte es jeder verantwortungsvollen Regierung daran gelegen sein, nicht über alle Vermögenswerte ihrer Einwohner informiert zu sein. Oder kann ein Regierungsoberhaupt für alle zukünftigen Nachfolger seine Hand ins Feuer legen? Sicher gibt es Orte wie die Schweiz, die USA oder Kanada, die vor autoritären Regimen langfristig ebenso verschont geblieben sind wie vor Eroberungen durch andere Mächte oder vor Kriegen, die sämtliche Ressourcen verzehrten.
Dies stellt jedoch zeitlich und geografisch eher eine Ausnahme als die Regel dar. Das Kapital der Bürger, das der Regierung nicht zugänglich ist, hat in der Geschichte insgesamt möglicherweise mehr Nutzen als Schaden gebracht. Der Verlust von Ersparnissen tritt oft schon durch die einfache Überschuldung eines Landes ein: In Argentinien beispielsweise kam es im Jahr 2008 zur Verstaatlichung privater Pensionskassen. Viele teilen die Einschätzung, dass Argentiniens Politik diese Maßnahme ergriff, um einen Finanzierungsengpass der öffentlichen Hand abzuwenden. Auch die hohe Inflation über das vergangene Jahrzehnt hinweg hat den Rentnern in Argentinien stark zugesetzt. Vor diesem Hintergrund sieht sich die öffentliche Sozialversicherung ANSES mit 450.000 Klagen von Rentnern konfrontiert.
Auch in Spanien schafft die tiefe Wirtschaftskrise und das damit wachsende Staatsdefizit ein Gefahrenpotenzial für Rentenbezieher. Zwar verfügt das Land über einen gut dotierten Reservefonds, der bereits 2012 zur Finanzierung der Renten Gelder bereitstellen musste. Der Fonds wird voraussichtlich auch in diesem und im nächsten Jahr eine Finanzierungslücke schließen müssen, da die Zahl der Beitragszahler sinkt, während die Bezieher zunehmen. Kritisch zu bewerten ist jedoch insbesondere der Umstand, dass dieser Reservefonds größtenteils (zu 97,4 Prozent) in spanischen Staatsanleihen investiert ist. Mit anderen Worten ist er zunehmend zu einem Instrument geworden, das der Regierung hilft, den Staatshaushalt zu finanzieren.
Besorgniserregend erscheint es zudem, dass eine Risikodiversifikation für diesen Reservefonds für die politisch Verantwortlichen kein Thema ist. Keine von staatlichen Finanzbehörden überwachte Bank aus der Privatwirtschaft würde ihre Gelder so einseitig in eine Anlagekategorie investieren, die zudem mit wachsenden Risiken behaftet ist – wie sich an der Renditeentwicklung spanischer Staatsanleihen leicht ablesen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass für die gegenwärtige Verschuldungskrise im EU-Raum und den USA Lösungen gefunden werden, welche eine generelle Verarmung der Bürger ausschließen. Unabhängig davon, wie man das Risiko eines Scheiterns einschätzt: Es ist auf jeden Fall deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit eines Hausbrandes, eines Beinbruchs oder anderer Ereignisse, gegen die man sich freiwillig oder staatlich verordnet versichert.
Selbst wer optimistisch davon ausgeht, dass eine erfolgreiche Sanierung der öffentlichen Haushalte ohne Zwangsmaßnahmen gegen den Normalbürger zu 99 Prozent sicher ist, räumt dem Scheitern eine Wahrscheinlichkeit von einem Prozent ein. In dieser Größenordnung erscheinen jedoch Zwangsmaßnahmen um ein Vielfaches wahrscheinlicher als die Perspektive eines Schadens am Eigentum eines Menschen durch Feuer.
Doch es ist selbstverständlich, sich gegen Feuerschäden abzusichern und dafür hohe Versicherungsprämien zu zahlen. Die größeren Risiken bezüglich der Ersparnisse sind jedoch nur schwer versicherbar. Einer schleichenden Enteignung durch Inflation oder den Risiken finanzieller Zwangsmaßnahmen seitens des Staates ist der Sparer weitgehend schutzlos ausgeliefert. Möchte er sein Geld unter diesen Umständen ins Ausland transferieren, sieht er sich häufig hohen Hürden gegenüber; und in vielen Ländern sind ihm aufgrund staatlicher Verbote gar gänzlich die Hände gebunden.
Wäre es nicht gesetzlich vorgeschrieben, müsste jeder Einzelne sein Handeln als geradezu fahrlässig betrachten, wenn er den Behörden Informationen über seine gesamten Ersparnisse und materiellen Vermögenswerte zukommen lässt. In keinem anderen Bereich mit ähnlich gravierenden Konsequenzen und vergleichbarer Wahrscheinlichkeit verzichtet ein vernünftiger Mensch auf eine Versicherung. Bei all diesen Überlegungen geht es um grundlegende Fragen darüber, was für den einzelnen Menschen sowie für die Gesellschaft als Ganzes aus historischer Sicht sinnvoll erscheint. Dies hat noch nichts mit der Frage von Steuervorteilen zu tun. Wer Menschen pauschal vorwirft, sie handelten aus niederen Motiven, argumentiert unfair und wenig zutreffend – zumal ihre Vorgehensweise oft sinnvoll war, wie die Geschichte gezeigt hat. Es sind Fälle bekannt von Personen, die ein Vielfaches der vermeintlichen oder tatsächlichen Steuerersparnisse für wohltätige Zwecke ausgeben möchten und deren Ziel nicht primär Steuerersparnis auf deren in der Regel geringen Ertrag ist, sondern Sicherheit im Falle staatlicher Übergriffe und Tragödien.
Auch stimmt das weit verbreitete Vorurteil nicht, dass das Sichern von Teilen des Vermögens an Orten außerhalb des Zugriffs des eigenen Staates lediglich ein Hobby reicher Menschen sei; hier zeigt sich ebenfalls ein ganz anderes Bild in der Realität. Der Idealzustand wäre es, wenn der Staat zu seinen berechtigten Steuereinnahmen gelangen könnte, ohne den Menschen historisch bewährte Möglichkeiten zur Wahrung finanzieller Geheimnisse zu nehmen.
Hierfür gibt es verschiedene Ansätze; einige werden in einem späteren Abschnitt noch behandelt werden. Während kleine Länder wie Schweiz, Liechtenstein und Österreich versuchten Lösungen zu entwickeln, um sowohl Steuererträge für Behörden als auch Privatsphäre für Bürger zu gewährleisten, wurden diese Vorschläge von Ländern wie den USA, Frankreich und Deutschland abgelehnt. Selbst ein zwischen Deutschland und der Schweiz ausgehandelter Vertrag wurde letztendlich im deutschen Bundestag abgelehnt; dieser hätte Steuerpflichtige schlechter behandelt als andere Bürger mit Wahlrecht auf Privatsphäre in wesentlichen Punkten. Ein von beiden Regierungen ausgearbeitetes Steuerabkommen scheiterte im deutschen Bundesrat aufgrund des Widerstands sozialdemokratischer sowie grüner und linker Parlamentarier gegen das Vertragswerk.
Letztendlich kam es im Dezember 2012 auch im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag zu keiner Einigung mehr darüber hinausgehend; unverkennbar zielen politische Entscheidungsträger darauf ab, den Behörden möglichst viele Informationen bereitzustellen. Indem sie den Zugang zu privaten Informationen über Bürger erleichtern wollen, greifen sie jedoch tief in fundamentale Persönlichkeitsrechte ein. Ziel vieler nicht deklarierter Gelder ist nicht primär Steuerersparnis auf deren – meist geringen – Ertrag; vielmehr steht Sicherheit im Falle staatlicher Übergriffe oder Tragödien im Vordergrund des Interesses an diesen Mitteln.
Wenn dies für das Funktionieren des Staates notwendig erscheint, muss eine Gesellschaft möglicherweise eine Güterabwägung akzeptieren; hierbei wird das staatliche Funktionieren höher gewichtet als individuelle Persönlichkeitsrechte. Doch war dies hier tatsächlich gegeben? Reichen dazu einige Informationen über Kontostände und Erträge? Oder welche weiteren Maßnahmen müssen ergriffen werden, um realistisch eine signifikant bessere Steuermoral erzielen zu können? Sind wir bereit auch diese zusätzlichen Schritte einzufordern?