Hassrede und Fehlinformationen: Welche Bewertung ergibt sich aus dem historischen Kontext?

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Es finden umfangreiche Kampagnen gegen vermeintliche oder tatsächliche Fehlinformationen sowie gegen “Hass und Hetze” statt – wobei unklar bleibt, wie diese Begriffe genau definiert sind oder welche Aspekte davon strafbar sein könnten? Gleichzeitig betreiben staatliche Institutionen selbst Öffentlichkeitsarbeit, und über allem schwebt die grundlegende Frage: Inwieweit ist dies überhaupt mit den Prinzipien eines Rechtsstaats vereinbar?

“Hass und Hetze”

>>Landeskriminalamt Niedersachsen<<

„Gegen Hass und Hetze im Netz! – Gemeint ist hier der Begriff „Hate speech“ (Hassrede) … Strafanzeige erstatten und Webseiten mit „Hatespeech“ bzw. Hassreden an entsprechende Beschwerdestellen melden!”

“Gegen Hass und Hetze im Netz!”

Was genau sollte an “Hassrede” strafrechtlich relevant sein? Eine klare Definition lässt sich nirgends entdecken; stattdessen werden verschiedene Paragraphen des Strafrechts – die teils seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten bestehen – herangezogen und in diesem Zusammenhang von “Hass und Hetze” oder “Hassrede” gesprochen.

“Bundesweiter Aktionstag gegen Hasspostings”

>>Landesregierung von Baden-Württemberg<<

“Bundesweiter Aktionstag gegen Hasspostings – Die deutschen Strafverfolgungsbehörden sind mit einem bundesweiten Aktionstag gegen Hass und Hetze im Netz vorgegangen.”

“Bundesweiten Aktionstag gegen Hass und Hetze im Netz”

Es wird ein enormes Aufgebot gegen angebliche “Hassrede” mobilisiert, und dies geschieht zudem auf eine öffentlichkeitswirksame Weise. Im Gegensatz dazu betreiben die Regierungsbehörden selbst aktiv Werbung, um offensichtlich ihre eigenen Maßnahmen und Handlungen zu legitimieren.

“Wie die Bundesregierung auf unsere Kosten für sich wirbt” 

>>Bund der Steuerzahler<<

“Wie die Bundesregierung auf unsere Kosten für sich wirbt – Finanziert wird die Kampagne unter anderem aus dem Haushaltstitel „Ressort­übergreifende Kommunikation und Koordinierung“. Daraus werden sämtliche Kommunikationsmaßnahmen finanziert, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung verantwortet.”

“Sämtliche Kommunikationsmaßnahmen finanziert, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung verantwortet”

Über dem Verhalten steht selbstverständlich die Überlegung: Ist es tatsächlich mit den Prinzipien des Rechtsstaats vereinbar? Schließlich sind staatliche Institutionen an ein Neutralitätsgebot gebunden, und auch die Freiheit der Meinungsäußerung wird durch das Grundgesetz gewährleistet. Zudem wurden all diese Regelungen – ebenso wie das Grundgesetz – im Wesentlichen in den späten 1940er Jahren formuliert, als die Erfahrungen mit der vorhergehenden Regierung und deren Vorgehensweisen einflossen. Denn auch damals spielte Hetze eine entscheidende Rolle.

“Gegen die Miesmacher und Kritikaster, gegen die Gerüchtemacher und Nichtskönner, gegen Saboteure und Hetzer”

>> “Röhm-Putsch!” 1934 von Sven Felix Kellerhoff (Buch) <<

“Auf diese verbreitete Unzufriedenheit reagierte die Regierung mit einer »Propagandaaktion«, die sich »insbesondere gegen die Miesmacher und Kritikaster, gegen die Gerüchtemacher und Nichtskönner, gegen Saboteure und Hetzer richten« sollte, gegen all jene also, die »immer noch glauben, die klare Aufbauarbeit des Nationalsozialismus stören zu können«. Hitler selbst machte am 1. Mai 1934, dem zweiten »Tag der nationalen Arbeit«, den Auftakt. Weil das aber noch nicht reichte, schaltete sich Joseph Goebbels persönlich ein. Nach einer Rede im Berliner Sportpalast zehn Tage später notierte er befriedigt: »Gegen Meckerer und Nörgler. Rauschende Beifallsstürme. Ich bin in bester Form. Die Argumente fliegen mir nur so zu. Ganz groß. Am Ende tolle Ovationen. Das war ein schwerer Schlag gegen die Sabotage.«

“Gegen Meckerer und Nörgler” – “Das war ein schwerer Schlag gegen die Sabotage”

Alle diese Begriffe wirken auf den ersten Blick irgendwie beunruhigend. Doch damit ist noch lange nicht das gesamte Bild erfasst. Denn die Kritiker jener Zeit mussten sich durchaus in Acht nehmen.

“Wenn Goebbels vom »Volk« sprach, meinte er jene Menschen, die bedingungslos dem »Führer« folgten”

>>Der Brandstifter von Alois Prinz (Buch) <<

“Wenn Goebbels vom »Volk« sprach, meinte er jene Menschen, die bedingungslos dem »Führer« folgten. Und er wollte darin das Vorbild sein. Der Treueste der Treuen. War er allein, beschlichen ihn durchaus Zweifel, er wurde melancholisch und seiner Arbeit überdrüssig. Sobald er aber in Hitlers Nähe war, fielen alle Zweifel von ihm ab und er war sich seiner Mission wieder absolut sicher. Hitler war seine Kraftstation. Von ihm wieder aufgerichtet, konnte er ohne den geringsten Skrupel die dreistesten Lügen verbreiten oder einen unliebsamen »Kritikaster« ins KZ schicken.”

“Ohne den geringsten Skrupel die dreistesten Lügen verbreiten oder einen unliebsamen »Kritikaster« ins KZ schicken”

Es wurden nicht nur Personen aufgrund rassistischer Vorurteile, sondern auch Kritiker des nationalsozialistischen Regimes in Konzentrationslager gebracht. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass es schwierig ist, die Annahme einer kollektiven Schuld aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig hat der NS-Apparat eine umfassende PR-Kampagne zur Selbstinszenierung gestartet.

“Nicht meckern sondern arbeiten”

>>Peter Longerich von Joseph Goebbels (Buch) <<

“Wie weit die Realität einer rücksichtslosen Ausrichtung der Öffentlichkeit im »Dritten Reich« von feinsinnigen Debatten um Nuancen der Pressefreiheit entfernt war, sollte Goebbels während seiner Kampagne gegen »Miesmacher und Kritikaster« im Mai 1934 eindrucksvoll vorführen. … Schon zwei Wochen vor dem Höhepunkt der Aktion – sie sollte in einer Veranstaltungswelle kulminieren – war die gesamte örtliche Presse gehalten, täglich über die Kampagne zu berichten. Unter anderem forderten die Zeitungen dazu auf, Hakenkreuzabzeichen, die zum Besuch der geplanten Kundgebungen berechtigten, zu erwerben und sie offen zu tragen. Acht Tage vor der Versammlungswelle wurden 4000 Plakate in der Stadt angeschlagen, die am Tag vor der eigentlichen Aktion mit dem Aufkleber »Heute Abend bleiben nur Miesmacher zu Hause« versehen wurden. Über die Hauptstraßen der Stadt wurden Transparente gespannt, auf denen »Miesmacher sind Landesverräter«, »Nicht meckern sondern arbeiten« und Ähnliches zu lesen stand. 20 Malerkolonnen pinselten die gleichen Sprüche auf den Bürgersteigen auf. Im Zuge der Aktion wurden ferner 50 000 Flugblätter an alle Haushalte verteilt, 16 Lastwagen mit 30 bis 40 uniformierten Parteigenossen, die Parolen skandierten, fuhren durch die Stadt, Rednertrupps suchten in den Abendstunden nach einem festgelegten Plan Lokale auf, um dort Kurzansprachen zu halten, und in den Kinos wurden im Vorprogramm werbende Diapositive eingeblendet.”

“Aktion mit dem Aufkleber” – “Heute Abend bleiben nur Miesmacher zu Hause”

In der Tat haben zahlreiche angebliche “Miesmacher” das Land zu verschiedenen Zeitpunkten bereits verlassen und haben die Entwicklungen im Ausland teilweise mit kritischem Blick verfolgt. Dazu existiert eine umfangreiche Sammlung an Literatur aus dem Exil. Bertolt Brecht hat zum Beispiel das politische Tagesgeschehen jeder Epoche akribisch dokumentiert. Dennoch geraten diese Stimmen auch heute noch in der allgemeinen Berichterstattung in den Hintergrund, und es wird nur selten eine Einordnung in den aktuellen Kontext vorgenommen.