Existiert tatsächlich keine Alternative zur kalten Progression?

Screenshot youtube.com Screenshot youtube.com

Die kalte Progression stellt eine “verdeckte” kontinuierliche Steuererhöhung dar. Sie könnte verfassungswidrig sein, da sie dem Grundprinzip des Grundgesetzes widerspricht, wonach nur diejenigen mehr Steuern zahlen sollten, die auch in ihrer Leistungsfähigkeit gestiegen sind. Ein verfassungsgemäßer Steuertarif erfordert daher entweder einen “dynamischen Tarif“, der fortlaufend an die Inflation angepasst wird, oder einen einheitlichen Steuersatz. Letzteres ist häufiger anzutreffen, als man vermutet.

In Staaten mit einem einheitlichen Steuersatz, wie beispielsweise Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Russland, existiert ohnehin keine kalte Progression. Wo der Steuersatz nicht mit steigendem Einkommen ansteigt, kann dieser Effekt nicht eintreten. Allenfalls müssen hier bestehende Freigrenzen an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten angepasst werden. In Kanada, den USA, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden – Länder mit einem progressiven Tarif – wird die Inflation direkt in der Einkommensteuerformel berücksichtigt. Durch diese Indexierung werden die Grenzen der Steuerstufen und die Grundfreibeträge jährlich automatisch erhöht.

Somit wird der Effekt der kalten Progression umgangen. In der Schweiz und in Frankreich wird die Inflation zwar nicht direkt in die Einkommensteuerformel integriert, jedoch besteht eine gesetzliche Verpflichtung zur regelmäßigen Anpassung an die Lebenshaltungskosten. In Irland, Norwegen, Dänemark und Zypern gibt es zwar keinen gesetzlichen Zwang, doch wurde die Einkommensteuerformel in den letzten Jahren auf freiwilliger Basis kontinuierlich an die Teuerungsrate angepasst.

Zurückblickend auf Deutschland: Im Jahr 1958, als der progressive Tarif mit Grundfreibetrag eingeführt wurde, erreichte der Grenzsteuersatz – damals noch 53 Prozent – erst beim 20-Fachen des damaligen Durchschnittseinkommens. Heutzutage trifft ein Steuerpflichtiger mit seinem letzten Euro bereits auf den Grenzsteuersatz, sobald er ungefähr das 1,3-Fache des heutigen Durchschnittseinkommens verdient. Würde das Verhältnis von 1958 heute noch gelten, würde man den Grenzsteuersatz nicht schon bei wenigen Tausend Euro erreichen, sondern erst bei etwa einer Millionen Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen.

Es ist also festzustellen, dass es sich um einen Staat handelt, dessen Aufgaben sich in den letzten Jahrzehnten tatsächlich kontinuierlich ausgeweitet haben. Ein Staat, dessen politische Vertreter ihren Erfolg nicht an einer effizienten Verwendung von Steuermitteln messen, sondern an der Großzügigkeit ihrer Wahlversprechen und dem Umfang des für ihre politischen Aufgaben bereitgestellten Budgets. Zudem handelt es sich um einen Staat, der die durch innere und äußere Faktoren bedingte ständige Expansion seiner Aufgaben und Ausgaben kaschiert – durch explizite sowie implizite Staatsverschuldung, also durch eine Verlagerung in die Zukunft sowie durch eine versteckte, jedoch massive Steuererhöhung in Form der kalten Progression.

Von diesem Staat zu erwarten, dass er die Steuerlast freiwillig senkt und sich bei seinen Ausgaben einschränkt, ist vergleichbar mit dem Versuch, eine stark übergewichtige Person mit unkontrolliertem Essverhalten – leidend unter Magenvergrößerung und Verlust des Sättigungsgefühls – vor einen offenen vollen Kühlschrank zu setzen und sie aufzufordern: “Reiß dich gefälligst zusammen.” Dass dies nicht funktioniert, liegt auf der Hand.

Was hier erforderlich ist, ist demnach eine Zwangsdiät. Wenn wir den Staat nicht dazu zwingen, Maß zu halten, wird er es freiwillig jedenfalls nicht tun.