Wer gehörte zu den Anhängern der antiken Mysterienkulte?
Die Kultgemeinschaften waren nicht isoliert, sondern standen in vielfältigen Verbindungen zur Gesellschaft. Eine bedeutende Rolle spielte das Rekrutierungsfeld für die Mysterien. Für Mitglieder der absoluten Oberschicht waren diese Gemeinschaften relativ wenig ansprechend, da deren Aktivitäten sich auf die offiziellen städtischen Kulte konzentrierten. Auf der städtischen Ebene agierten sie sowohl als Magistrate als auch als Priester. Anders verhielt es sich für diejenigen, die bei den traditionellen Kulte eher am Rand standen: Freigelassene sowie Angehörige der unteren Ränge im Militär und in der Verwaltung. Für sie boten die Mysterien, bei entsprechender Entschlossenheit, die Chance, bedeutende Positionen im Kultbetrieb zu erreichen.
Es ist kein Zufall, dass vieles in der Organisation der Kulte, insbesondere in der Hierarchie, militärische Züge trägt. Die Mysten waren dem Kaiser verpflichtet und richteten Gebete an Mithras. Das Militär, als weit vernetzte Organisation, dürfte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Kultes und dem Informationsaustausch zwischen den Gemeinden gespielt haben. Es ist vorstellbar, dass einiges von dem, was im Innern des Mithräums stattfand, in den öffentlichen Raum ausstrahlte. Kann man sich vorstellen, dass jemand, der innerhalb der eng verbundenen Kultgemeinschaft zum “Pater” aufgestiegen war, in der äußeren Welt unbedeutend war? Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren die Netzwerke, die durch den Kult geknüpft wurden, auch in der Stadt wirksam und möglicherweise darüber hinaus.
Es ist zumindest denkbar, dass Abhängigkeiten in der Außenwelt sich auch im Kreis der Mysten reproduzierten – und umgekehrt könnte Patronage innerhalb der Mithras-Gemeinde ihre Entsprechung in der Gesellschaft gefunden haben. Mithras war nicht der einzige Gott mit orientalischem Ursprung, der bei Soldaten beliebt war. Die Herkunft von Jupiter Dolichenus ließ sich präzise lokalisieren – im kommagenischen Ort Doliche am oberen Euphrat. Auch er war, ähnlich wie Mithras, eine synkretistische Neuschöpfung, die sich im 2. Jahrhundert n. Chr. vor allem in Italien sowie in den Rhein- und Donauprovinzen verbreitete. Jupiter Dolichenus wurde gewöhnlich im römischen Militärgewand dargestellt und trug Axt sowie Blitzbündel als Attribute. Der Kult verschwand nach der Zerstörung des Tempels von Doliche durch die Perser Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.
Zu diesem Zeitpunkt war das religiöse Koordinatensystem im Imperium dabei, sich unwiderruflich zu verändern. Viele Kaiser verbanden ihr Schicksal mit bestimmten Gottheiten und privilegierten diese gegenüber anderen. Einen ersten Eindruck davon vermittelte der unglückliche Elagabal der vergeblich versucht hatte, den Gott aus seiner Heimatstadt Emesa als höchsten Gott des römischen Pantheons zu etablieren. Fünfzig Jahre später machte Aurelian den Sonnengott Sol Invictus zu seinem persönlichen Schutzgott; auch Konstantin der Große zeigte Sympathie für Sol, bevor er sich dem christlichen Glauben zuwandte.
Die Erlösungsperspektive, die Mysterienreligionen ihren Anhängern typischerweise vermittelten, wurde zu einer allgemeinen Erwartung an göttliche Wesen. Gleichzeitig wurden die Kulte von ihren lokalen Wurzeln gelöst und zu einem Thema von reichsweitem Interesse. Die Kaiser selbst achteten darauf, welche Götter ihre Untertanen verehrten und wie sie dies taten. Deshalb verfolgten sie zunächst die Christen, bevor sie dieser neuen Glaubensrichtung zunächst erlaubten zu existieren und sie schließlich zur Staatsreligion erhoben. Diese bemerkenswerte Entwicklung hat ihre Logik, denn kein Kult verkörperte den universellen Anspruch des römischen Imperiums besser als das ebenfalls Universalität beanspruchende Christentum. Die Anhänger der alten Kulte mussten nun zunehmend in die Illegalität abtauchen und damit ins Verborgene verschwinden. Im Vergleich zum Christentum hatten die traditionellen Mysterienkulte keine Chance mehr. Der Grund dafür ist offensichtlich: Das Christentum konnte die Botschaft von Erlösung überzeugender formulieren als die zahlreichen disparaten Kulte; es verfügte über eine zentrale Organisation – die Kirche – und richtete sich an alle Menschen und nicht nur an eine exklusive Gruppe von Eingeweihten.
Das Ungleichgewicht der Mysterienreligionen wird besonders deutlich an der Kirche San Clemente in Rom. Hier befinden sich drei Kultstätten übereinander angeordnet. Die heutige Kirche stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde seitdem mehrfach umgestaltet. Ein Stockwerk darunter liegen die noch zugänglichen Überreste einer dreischiffigen Basilika, die Ende des 4. Jahrhunderts unter Papst Siricius errichtet und 1184 während des Normannensturms zerstört wurde. Unter dieser spätantiken Kirche befindet sich wiederum ein Mithräum, das um 200 n. Chr. unter dem Innenhof eines großen Gebäudes angelegt wurde, das damals vermutlich die staatliche Münze beherbergte.
Das Heiligtum ähnelte zahlreichen anderen Mithräen mit seinem niedrigen Tonnengewölbe, einer mit Sternen verzierten Decke sowie einem Altar mit Tauroktonie. Zwischen 250 und 275 n. Chr. wurde über dem Mithräum eine große Halle errichtet, die möglicherweise bereits als Kirche genutzt wurde. Spätestens 392 wurde dieser Raum in die dreischiffige Basilika umgestaltet – so dass der Kirchenraum symbolisch den Sieg des Christentums über den alten Kult festigte. Die christliche Basilika hatte sich über die Kultstätte von Mithras gelegt und führte somit zu deren Vergessenheit. Ein ähnliches Schicksal erlitt bald darauf auch der Gott Mithras selbst: Ebenfalls 392 wurde durch ein Edikt des Kaisers Theodosius der Kult von Eleusis verboten.
Der neuplatonische Philosoph Eunapios von Sardes, selbst noch eingeweiht gewesen, berichtet sinngemäß vom Ende der über tausendjährigen Mysterien: “Den Namen dessen, der damals Hierophant war, darf ich nicht nennen; denn er weihte den Verfasser dieser Erzählung ein.” Er stammte aus den Eumolpiden und sagte die Zerstörung der Heiligtümer sowie den Untergang ganz Griechenlands in Anwesenheit des Verfassers voraus: “Er sah auch voraus, dass nach ihm noch ein Hierophant kommen würde…” So kam es letztlich dazu: Sobald jener Bürger von Thespiai – zuvor pater bei den Mysterien des Mithras – Hierophant wurde, brach eine Reihe von Katastrophen herein wie eine Flutwelle: “Es war die Zeit, als Alarich durch den Pass der Thermopylen brach…”