“Rechtsstaat basiert unter anderem auf dem Versprechen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind”

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Wer über finanzielle Mittel verfügt, kann sich vor Gericht rechtlich vertreten lassen, während Personen ohne Geld in der Regel auf eine Selbstvertretung angewiesen sind. Kompetente Anwälte finden fast immer Aspekte, die ein Gericht beeindrucken können. Dies stellt einen klaren Nachteil für jene dar, die unverteidigt bleiben müssen. Oft ist die Pflichtverteidigung für einkommensschwache Personen nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. In 90 Prozent der strafrechtlichen Verfahren besteht für die Betroffenen kein Anspruch auf eine Pflichtverteidigung. Diese Fälle erscheinen nur solange “einfach gelagert”, bis ein Anwalt involviert ist. In diesem Kontext wird häufig nicht auf die kognitiven Einschränkungen einer 76-jährigen Rentnerin hingewiesen, die wiederholt wegen Ladendiebstahls vor dem Amtsgericht steht.

“Rentnerin muss wegen Diebstahls von Sahnesteif und Haarklammern in Haft – Ihre Rente reiche nicht zum Leben”

>>Spiegel<<

“Rentnerin muss wegen Diebstahls von Sahnesteif und Haarklammern in Haft – Ihre Rente reiche nicht zum Leben, sagt Ingrid Millgramm: Weil sie Lebensmittel klaute, saß die 85-Jährige bereits im Gefängnis. … Die 85-Jährige hat nach Überzeugung der Richter wieder einmal Dinge des täglichen Bedarfs gestohlen. Dieses Mal Lebensmittel und Kosmetik im Wert von 18 Euro.”

Diebstahl von Dinge des täglichen Bedarfs: “Lebensmittel und Kosmetik im Wert von 18 Euro”

Staatsanwälte und Richter zeigen gegenüber den Angeklagten oft eine Voreingenommenheit, teilweise sogar eine regelrecht feindliche Haltung, da diese Vertreter des Staates meist aus einer ganz anderen sozialen Schicht stammen. So werden Urteile teilweise im Minutentakt gefällt, vergleichbar mit fliegenden Feldgerichten im Kriegszustand, ohne dass genau hingeschaut oder wirklich die Perspektive des Betroffenen beleuchtet wird. Auch die Arbeit der Pflichtverteidiger ist problematisch. Diese erhalten oft geringe Vergütungen und sind daher häufig wenig motiviert. Zudem werden sie meistens vom Gericht ausgewählt, was ihre Bereitschaft für zeitintensive Anträge einschränken und die Chancen auf eine erneute Bestellung als Pflichtverteidiger mindern kann.

Zahlreiche Strafurteile weisen eine soziale Schieflage auf

Zahlreiche Strafurteile weisen zudem eine soziale Schieflage auf. Tendenziell werden härtere Strafen verhängt, wenn jemand in prekären Verhältnissen lebt. Ein Rentner, der Lebensmittel stiehlt, wird strenger bestraft als andere Diebe. Bei einkommensschwachen Personen wird häufig ein strafverschärfendes gewerbliches Motiv für den Diebstahl unterstellt. Wer als Hartz-IV-Empfänger vermeintlich teuren Sahnesteif stiehlt, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, einen theoretischen Weiterverkauf beabsichtigt zu haben. Kurz gesagt: Arme gelten häufiger als Berufskriminelle.

„Fristlose Kündigung wegen zwei Pfandbons von 1,30 Euro“

>>n-tv<<

„Der Fall „Emmely“ – Ihr Fall – eine fristlose Kündigung wegen zwei Pfandbons von 1,30 Euro – hatte 2008 bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.“

Überstundenbetrug eines Polizisten versus Pfandbons einer Kassiererin

Im Allgemeinen war beim Fall „Emmely“ kaum eine romantisierte Sicht auf soziale Aspekte erkennbar. Abgesehen von sämtlichen Urteilen und gesetzlichen Regelungen kann man sicherlich ausgiebig diskutieren, ob eine derartige Kündigung gerechtfertigt ist.

Überstundenbetrug eines Polizisten: „Wegen Betrugs in 86 Fällen, davon in 13 Fällen gewerbsmäßig“

>>Mittelbayerische<<

„Polizist fälschte Zeitkonten – Der 58-jährige Polizeibeamte wurde wegen Betrugs zu Bewährungsstrafe verurteilt. Er hatte bei den Überstunden geschummelt. … Am Dienstag stand der Regensburger wegen Betrugs in 86 Fällen, davon in 13 Fällen gewerbsmäßig, vor dem Amtsgericht.“

Urteil eines Polizeibeamten: Elf Monaten Bewährung – Erst ab zwölf Monaten droht die Kündigung

>>Süddeutsche Zeitung<<

“Milde für den Vergewaltiger – Ein 28-Jähriger gesteht, eine schlafende Freundin missbraucht zu haben. Weil sein Beamtenstatus auf dem Spiel steht, verurteilt das Schöffengericht den Mann lediglich zu einer Bewährungsstrafe von elf Monaten. … Er sei ja mit 25 Jahren noch sehr jung gewesen damals, dass er nach der Trennung von seiner Frau eine gute Freundin vergewaltigt habe, sei eine „unreife Reaktion“ gewesen, man müsse das strafmildernd werten.”

“Milde für den Vergewaltiger – Ein 28-Jähriger gesteht, eine schlafende Freundin missbraucht zu haben”

Die “Begründung” kann sich also durchaus sehen lassen, aber im Urteil kommt die Perspektive des Opfers wenig zum tragen, weil offenbar das Vergewaltigungsopfer zur vermeintlich falschen sozialen Schicht gehört. Dieses Problem setzt sich auch bei Entscheidungen über Bewährung fort. Je besser die “soziale Prognose” ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Im Gegensatz dazu müssen arbeitslose und geschiedene Personen eher mit einer Haftstrafe rechnen.

“Wer Geld hat, kann sich vor Gericht vertreten lassen, und wer kein Geld hat, muss sich in der Regel selbst vertreten”

>>Legal Tribune Online<<

” Wer Geld hat, kann sich vor Gericht vertreten lassen, und wer kein Geld hat, muss sich in der Regel selbst vertreten. … Wie Steinke aufklärt, ist Pflichtverteidigung für Mittellose nicht die Regel, sondern die Ausnahme. In 90 Prozent der strafrechtlichen Fälle hat der bzw. die Betroffene keinen Anspruch auf Pflichtverteidigung. Dabei sind diese Fälle nur so lange “einfach gelagert”, wie kein Anwalt bzw. keine Anwältin beteiligt ist, so die These von Steinke. Dann weist eben niemand auf die kognitiven Einschränkungen der 76-jährigen Rentnerin hin, die zum wiederholten Male wegen Ladendiebstahls vor dem Amtsgericht steht.”

“In 90 Prozent der strafrechtlichen Fälle hat der bzw. die Betroffene keinen Anspruch auf Pflichtverteidigung”

Die 1975 eingeführte Berechnung von Geldstrafen nach Tagessätzen hat zwar eine soziale Absicht, kommt jedoch oft nicht ausreichend zur Geltung. Das Einkommen wohlhabender Personen wird häufig zu niedrig eingeschätzt. Eine Anfrage beim Finanzamt wird durch das vermeintliche Steuergeheimnis erschwert, was in diesem Zusammenhang absurd erscheint, da es auch Steuerstrafverfahren gibt. Dagegen basiert die Einkommensschätzung bei einkommensschwachen Personen oft auf ähnlichen Durchschnittswerten, wobei sich diese Betroffenen aufgrund von Scham nicht wehren. Das Tagessatzsystem wird zudem durch die Möglichkeit verzerrt, dass Dritte die Geldstrafe übernehmen.

“Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich” – “Die neue Klassenjustiz”

>>Universität Leipzig<<

“Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz” – Der Rechtsstaat basiert unter anderem auf dem Versprechen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. In der Realität sieht dies ganz anders aus. Die geltende Rechtsordnung begünstigt jene, die vermögend sind und benachteiligt gleichzeitig die, die wenig oder nichts haben. Unterschiedliche ökonomische Verhältnisse führen dazu, dass die Justiz den Menschen entsprechend dieser Ungleichheit unterschiedlich begegnet.”

“Rechtsstaat basiert unter anderem auf dem Versprechen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind”

Inzwischen steigt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen kontinuierlich an. Rund zehn Prozent der Gefängnisinsassen können eine Geldstrafe nicht begleichen. Neueren Statistiken zufolge ist die Anzahl der – meist kurzen – Ersatzfreiheitsstrafen mittlerweile sogar höher als die der ursprünglichen Freiheitsstrafen. Gefängnisse stellen demnach mehr und mehr die mittelalterlichen Schuldentürme dar.

Karriere versus Rechtsstaat: Das unberücksichtigte Eigeninteresse von Richtern und Staatsanwälten

Untersuchungshaft wird zwar nur in wenigen Fällen aller Strafverfahren angeordnet, doch wenn dies als notwendig erachtet wird, häufig liegt häufig “Fluchtgefahr” zugrunde. Überproportional betroffen sind hiervon arme Personen. Die Hälfte der Untersuchungshäftlinge hat keine regelmäßige Beschäftigung oder arbeitet nur in Teilzeit oder erhält Sozialhilfe. Daher wird Untersuchungshaft nicht nur in Fällen mit besonders hohen Strafandrohungen verhängt, vielmehr betrifft es in einem Drittel der Fälle kleinere Diebstähle oder minderschwere Drogendelikte. Wohlhabende Menschen haben Möglichkeiten, sich vor Untersuchungshaft zu schützen, über die arme Personen nicht verfügen. Sie können Kaution zahlen. Steuerhinterzieher wie Uli Hoeneß zahlten einst fünf Millionen Euro, um bis zum Prozess auf freiem Fuß zu bleiben. Ex-Audi-Chef Rupert Stadler stellte drei Millionen Euro bereit, um nach vier Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Auch Gelder von Dritten dürfen als Kaution verwendet werden. Wer jedoch keine finanziellen Rücklagen hat und in einem Umfeld ohne finanzielle Sicherheit lebt, ist benachteiligt. Gleichzeitig dürften diese Kautionssummen für Wohlhabende kaum ins Gewicht fallen.

CumEx-Skandal und die Diskussion über die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft

>>Welt<<

“Im Ablehnungsschreiben zeigten sich die Hamburger Staatsanwälte zudem pikiert, dass … seine Anzeige gleichlautend in Köln eingereicht hat. Das liege „einfach schlicht daran, dass ich schon aus dem Ausgangsbescheid der Staatsanwaltschaft Hamburg den Eindruck gewonnen hatte, dass bei den beiden Strafverfolgungsbehörden unserer Hansestadt nicht der Mut besteht, in dieser Sache den Dingen auf den Grund zu gehen“, … “

“Strafverfolgungsbehörden unserer Hansestadt nicht der Mut besteht, in dieser Sache den Dingen auf den Grund zu gehen”

Wirtschaftskriminalität macht zwar nur 0,9 Prozent aller erfassten Delikte aus, verursacht jedoch etwa die Hälfte des durch Kriminalität entstandenen Vermögensschadens. Aufgrund der oft komplexen Sachverhalte zeigen Richter wenig Interesse daran, sich mit Wirtschaftsstraftaten zu beschäftigen. Bei Verurteilungen von wohlhabenden Personen sind zudem kaum Karrieresprünge nach oben oder bei den Besoldungsstufen zu erwarten.

Verbotener Insiderhandel: “Wer früher als andere von Problemen bei börsennotierten Konzernen erfährt”

>>Spiegel<<

“Wer früher als andere von Problemen bei börsennotierten Konzernen erfährt, kann daraus Kapital schlagen. Allerdings sind solche Aktiendeals Insidern untersagt, die kraft ihrer Stellung an solche Kenntnisse gelangen können. Das gilt vor allen Dingen für Mitarbeiter der betroffenen Firmen selbst – und auch der Aufsichtsbehörden. … Bei der Finanzaufsicht Bafin allerdings ist es offenbar im Wirecard-Skandal genau zu solchen Insidergeschäften gekommen.”

Insiderhandel: “Solche Aktiendeals Insidern untersagt”

Engagierte Verteidiger können Strafkammern monatelang mit Zusatzarbeit beschäftigen und einen sogenannten Deal – milde Strafe für ein Teilgeständnis – attraktiv machen, um sowohl die Justiz als auch den Beschuldigten zu entlasten. Wird ein Manager oder eine Managerin zu einer Geldstrafe verurteilt, darf sogar das Unternehmen diese Strafe übernehmen und kann sie in der Regel steuerlich als Betriebsausgabe geltend machen. Darüber hinaus gibt es spezielle Versicherungen für Unternehmen, die ihre Manager absichern und sämtliche Kosten von Anwaltsgebühren bis hin zu Geldstrafen übernehmen.

“Jobcenter Mitarbeiterin veruntreute 75.000 Euro Gelder für Obdachlose” 

>>Süddeutsche Zeitung<<

„14 mal in neun Monaten hat sich die Frau offenbar hohe Summen auf ihr privates Konto überwiesen. … 280 000 Euro soll sich eine Mitarbeiterin des Jobcenters Friedrichshain-Kreuzberg auf ihr eigenes Konto überwiesen haben. … Um an das Geld zu kommen, soll sie Akten manipuliert und sogenannte Leistungsvorgänge im Jobcenter fingiert haben.“

75.000 Euro: “Zweijährigen Bewährungsstrafe wegen gewerbsmäßiger Untreue”

Bei Staatsbediensteten oder Beamten kommt hinzu, dass sie sich häufig hinter einer Behörde oder einem Amt verstecken können, sie handeln oftmals nur im vermeintlichen “öffentlichen Interesse“, obwohl im Hintergrund handfeste Beförderungen oder Sonderzahlungen stehen könnten. Individuelle Verurteilungen oder das Feststellen einer kriminellen Vereinigung wären hier also durchaus möglich. Zudem arbeiten Staatsanwälte und Richter nicht nur eng zusammen. Im Staatsdienst kommt es auch häufig zu Rollentauschen: Ein junger Richter muss beispielsweise die Anklage eines älteren Oberstaatsanwaltes verhandeln und weiß dabei bereits im laufenden Verfahren, dass er selbst bald zur Staatsanwaltschaft versetzt wird und genau jener älterer Oberstaatsanwalt dann sein Vorgesetzter sein wird. Die Befangenheit in solchen Fällen ist zwar in solchen Fällen regelrecht mit Händen zu greifen, jeder Antrag in dieser Richtung dürfte jedoch abgelehnt werden.