Aufstieg Roms – Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze

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Polybios, der Schüler von Publius Scipios Adoptivneffen Scipio Aemilianus, gehörte zu den 1000 Griechen, die im Jahr 167 v. Chr. infolge des Dritten Makedonischen Krieges als Geiseln nach Italien gebracht wurden. In Italien fand der ehemalige führende Politiker des Achaiischen Bundes ein gastfreundliches Zuhause im Haus von Scipios leiblichem Vater, Lucius Aemilius Paullus Macedonicus, und knüpfte eine Freundschaft mit dem jungen, intellektuell ehrgeizigen Scipio. Polybios pflegte Kontakte zur geistigen Elite des Roms im 2. Jahrhundert und verfasste mit seinen Historien ein Geschichtswerk, das sich das Ziel gesetzt hatte, den bemerkenswerten Aufstieg der römischen Republik zur Hegemonialmacht im Mittelmeer innerhalb von etwas mehr als einhundert Jahren einem griechischen Publikum verständlich zu machen.

Polybios zeigte bereits früh Interesse an Strukturgeschichte, lange bevor dieser Begriff geprägt wurde. Er interessierte sich weniger für die Ereignisse, die den Aufstieg Roms begleiteten, sondern in erster Linie für die Bedingungen, die es der Tiberrepublik ermöglichten, ihr enormes Potential zu entfalten.

Selbstverständlich war er gut mit der politischen Philosophie Platons und Aristoteles’ vertraut. Für ihn als Griechen war es evident, dass die Leistungsfähigkeit eines Staates eng mit seiner institutionellen Struktur verbunden ist, also mit der politeia. Platon hatte bereits drei Grundtypen von politeia unterschieden: Monarchien, in denen eine Person herrscht; Aristokratien, in denen wenige – idealerweise die Besten – herrschen; und Demokratien, in denen alle Bürger herrschen, das dēmos, das Volk. Im 6. Buch seiner Historien entwirft Polybios ein Modell der römischen Republik, das aus diesen drei Elementen zusammengesetzt ist.

Er argumentiert, dass die Besonderheit der römischen politeia darin bestehe, dass sie weder monarchisch noch aristokratisch oder demokratisch sei – oder eben all dies zugleich. Das Konsulat erscheine monarchisch, die Rolle des Senats aristokratisch und die Macht des Volkes bei Wahlen und Abstimmungen demokratisch. Alle drei Elemente hielten sich im Gleichgewicht; keines war übermächtig und jedes wurde durch die anderen begrenzt. Dadurch sei gewährleistet gewesen, dass die Republik nicht auf einen gefährlichen Kurs abdrifte. Für Polybios war diese sorgfältig austarierte “Mischverfassung” der entscheidende Faktor für den Aufstieg Roms zur Weltmacht.

Obwohl sein Modell auf den ersten Blick überzeugend erscheint, hatte die Perspektive des Griechen aufgrund ihrer Fixierung auf den formalen Staatsaufbau einen blinden Fleck. Polybios lässt in seiner Analyse nämlich jene Bindekräfte außer Acht, die in keinem Gesetz und in keiner Verfassung festgelegt sind, jedoch tief in der Gesellschaft wirken: Nah- und Treueverhältnisse, die horizontal zwischen Gleichen und vertikal zwischen Ungleichen bestehen und durch unbedingte Loyalität, fides, zusammengehalten werden. Das unsichtbare Band der fides bestand zwischen Freunden, amici, gleicher Rangordnung sowie zwischen Patronen und Klienten. Diese Loyalität war eine Ressource, die im politischen Wettbewerb bedenkenlos mobilisiert wurde und über Erfolg oder Misserfolg ganzer Karrieren entschied.

Niemand strebte einfach so ein Amt an; einer Kandidatur gingen Konsultationen mit den amici voraus. War eine Bewerbung vielversprechend, mussten die Freunde fides einlösen, indem sie ihre Klienten als Wähler in der Volksversammlung mobilisierten. Deren fides bestand wiederum darin, dass sie den Empfehlungen ihrer Patrons folgten. Quintus Cicero riet seinem Bruder im “Commentariolum” für Wahlbewerber immer dazu, von Leuten umgeben zu sein. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Kandidatur liege schließlich im Haushalt des Bewerbers: Die Angehörigen sollten ihn lieben und ihm das höchste Ehrenamt wünschen; auch seine Stammesgenossen, Nachbarn, Klienten sowie sogar seine Freigelassenen und Sklaven sollten dazu zählen. Denn das gesamte Stadtgespräch, aus dem seine Reputation resultiert, hat seine Ursprünge im eigenen Haus.

Was für Polybios wie die demokratische Komponente der römischen Mischverfassung erschien, war in Wirklichkeit das intransparente Zusammenwirken verschiedener überlappender Netzwerke. Die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen wurden von wenigen Personen in den Hinterzimmern ihrer Privathäuser vorweggenommen und waren nicht wie in Griechenland das Resultat offener Meinungsbildungsprozesse auf der Agora, dem Marktplatz. Diese Netzwerke reproduzierten sich von Generation zu Generation: Der Sohn erbte vom Vater nicht nur dessen Vermögen, sondern auch dessen soziales und politisches Kapital: die Freunde und Klienten sowie die Autorität aus einer oft jahrhundertealten Familientradition mit zahlreichen Konsuln und Prätoren.

War die politeia der Römer also tatsächlich keine Mischverfassung sondern eine versteckte Oligarchie – eine Herrschaft Weniger? War die Republik tatsächlich das Eigentum mafiöser Clans? Es scheint so zu sein; denn nicht nur diese Netzwerke übten Bindekraft aus – auch Geld floss regelmäßig als Gegenleistung für Stimmen. Quintus Cicero warnte seinen Bruder stets wachsam zu sein; Wahlbestechung sei quasi systemimmanent für die Republik gewesen.

Die Grenzen zwischen legitimer Großzügigkeit und echtem Stimmenkauf waren fließend. Da ein Großteil der römischen Bürger auf regelmäßige Getreide-, Öl-, andere Lebensmittel- und Geldspenden durch wohlhabende Bürger oder aus Erbschaften angewiesen war, wurden politische Loyalitäten oft nach dem Prinzip “eine Hand wäscht die andere” gesichert. Bedeutenden Einfluss hatten Verteiler (divisores), meist selbst einflussreiche Personen aus dem Ritterstand, die dafür sorgten, dass die Spenden auch tatsächlich bei den Richtigen ankamen. Verres’ Vater hatte einst seine Karriere bis hin zum Senat als divisor begonnen.

Der Vorwurf der Wahlbeeinflussung durch gezielte Großzügigkeit gehörte zum Standardrepertoire an Invektiven gegen politische Gegner. Cicero beschuldigte Antonius beispielsweise, er habe Bankette sowie Lebensmittelverteilungen allein zum Zweck des Stimmenkaufs veranstaltet.

In der späten Phase der Republik überschattete zunehmend Gewalt die politischen Auseinandersetzungen. Feldherren wie Sulla und später Caesar zögerten nicht, Soldaten und Veteranen auch in innerpolitischen Konflikten einzusetzen; Demagogen wie Clodius hielten sich zusammengewürfelte Privatarmeen aus Sklaven, Freigelassenen und Klienten bereit, um Bürger einzuschüchtern oder politische Gegner im schlimmsten Fall zu beseitigen. Am 18. Januar 52 v. Chr. traf Titus Annius Milo – Kandidat für das Konsulat – auf der Via Appia mit seinem Gefolge auf Clodius sowie dessen Begleitschutz. Nach einem kurzen aber heftigen Kampf lag die altehrwürdige Straße voller Leichen – eine davon war Clodius.

Milo hatte es gezielt auf diese Auseinandersetzung angelegt und wird im Mordprozess von Cicero verteidigt; dieser plädiert auf Notwehr: inter arma enim silent leges – “unter Waffen schweigen nämlich die Gesetze”. Cicero legt vor Gericht die Vergangenheit des Opfers dar: Schließlich sei es Clodius gewesen, der die Politik militarisiert habe und ihn selbst mit “Sklaven, Waffen und Gewalt” aus der Stadt vertrieben habe. Mit “Sklaven, Habenichtsen und Verbrechern” habe Clodius jahrelang die Hauptstadt tyrannisiert. Milo sei daher kein Mörder sondern ein Held gewesen; er habe die Stadt von diesem Unhold befreit. Das Gericht glaubt Cicero jedoch nicht; Milo wird schuldig gesprochen.