Antike Ingenieurskunst im Krieg – Vom Innovationsdrang einer längst vergangenen Epoche
Der Krieg gilt als der Vater aller Dinge, ein hervorragender Motor für Innovationen, ohne den zahlreiche Erfindungen entweder gar nicht oder erst viel später realisiert worden wären. Daher ist es sinnvoll, zum Abschluss dieses Kapitels erneut auf ihn einzugehen. Bereits der römische Kriegstheoretiker Vegetius empfahl militärischen Führern, sich nicht in offenen Feldschlachten mit gleichwertigen Gegnern auseinanderzusetzen. Viel erfolgversprechender sei es, aus dem Hinterhalt zu operieren, den Überraschungseffekt auszunutzen und Zeit sowie Raum zu eigenen Gunsten zu nutzen – kurz gesagt: auf Asymmetrie anstelle von Symmetrie zu setzen. Informationen stellten, wie bereits gezeigt wurde, eine bedeutende Ressource bei der Schaffung von Asymmetrie dar; jedoch lässt sich das Gleichgewicht auch durch den Einsatz von Waffen stören. Je größer die technologische Überlegenheit einer Seite und je besser es ihr gelingt, ihr Arsenal vor dem Gegner geheim zu halten, desto höher ist der Vorteil.
Die Suche nach Geheimwaffen führt uns zurück in die Ära des Hannibalkriegs, nach Sizilien, wo Syrakus unter König Hieron lange Zeit eine Allianz mit den Römern pflegte. Nach Hierons Tod im Jahr 215 v. Chr. strebten seine Nachfolger eine Verbindung mit Karthago an, wodurch Sizilien erneut für einige Jahre zum Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen wurde. Die Römer entsandten einen ihrer fähigsten Männer, Marcus Claudius Marcellus, bekannt als „das Schwert Roms“, um die Ungehorsamen zu zähmen. Das Vorhaben stellte sich jedoch als unerwartet schwierig heraus, da Syrakus durch mächtige Mauern geschützt war und zudem einen der klügsten Köpfe seiner Zeit beherbergte: den Mathematiker, Physiker und Erfinder Archimedes.
Archimedes hatte Geräte entworfen, deren Hauptziel es war, den Römern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die Römer versuchten mit ihren Belagerungsmaschinen, die Stadtmauern von Syrakus zu durchbrechen, an denen sich bereits 200 Jahre zuvor im Peloponnesischen Krieg die Athener die Zähne ausgebissen hatten. Katapulte und verschiedene Schleudern ließen Steine und Pfeile auf die Stadt niederregnen. Archimedes hatte die Geschütze so eingestellt, dass die Zielentfernung stufenlos angepasst werden konnte und tote Winkel vermieden wurden. Auch von der Seeseite versuchte Marcellus, die Hafenstadt mit eigens für den Sturm auf die Befestigungen konstruierten Kähnen anzugreifen. Doch riesige Kräne mit Greifarmen hoben die schweren Schiffe aus dem Wasser, als wären sie Nussschalen: “Ein furchtbares Schauspiel, wenn die Besatzung aus dem Boot gerissen und in alle Himmelsrichtungen geschleudert wurde“, kommentiert sinngemäß Plutarch, der Verfasser einer Biografie über Marcellus sowie Autor von insgesamt 44 Parallelviten großer Griechen und Römer.
Angesichts der Verluste, die Syrakus dem römischen Heer dank der Erfindungen des Mathematikers zufügte, rief ein frustrierter Marcellus sinngemäß aus: „Hören wir endlich auf, gegen diesen geometrischen Briareus zu kämpfen, der unsere Schiffe wie Tassen benutzt, um Wasser aus dem Meer zu schöpfen.“ Briareus war ein Riese aus der griechischen Mythologie. Letztendlich überwanden die Römer Syrakus trotz aller archimedischen Ingenieurskunst. Für das Jahrhundertgenie endete diese Episode tragisch: Ein römischer Soldat tötete ihn, während er Skizzen im Sand zeichnete, über die der Legionär achtlos trat. „Störe meine Kreise nicht“, waren sinngemäß seine letzten Worte – er war es, dem Syrakus sein Arsenal an tödlichen Wunderwaffen verdankte.
Die byzantinischen Historiker Johannes Zonaras und Johannes Tzetzes berichten sogar von einer weiteren Wunderwaffe Archimedes. Der Erfinder soll mithilfe von Hohlspiegeln eine Strahlenwaffe konstruiert haben, mit der er die römischen Schiffe in Brand setzte. Das Prinzip war den antiken Physikern bekannt, jedoch ist die Spiegelkanone umstritten. Ob Archimedes Spiegel in ausreichender Größe herstellen konnte, erscheint vielleicht denkbar,vor allem Polybios, der verlässlichste Historiker zum Zweiten Punischen Krieg, berichtet nichts von Schiffen, die durch gebündeltes Licht in Flammen aufgegangen wären.
Im Gegensatz dazu verdankten die Römer ihrem Sieg im Ersten Punischen Krieg laut dem griechischen Historiker Polybios ebenfalls einer Geheimwaffe. Er behauptet, dass die Römer vor ihrer ersten Auseinandersetzung mit Karthago eingefleischte Landratten waren und kaum Erfahrung mit dem Meer hatten. Daher hätten sie anfänglich Schwierigkeiten gehabt, der haushoch überlegenen Flotte des Gegners Paroli zu bieten. Im Jahr 260 v. Chr. gelang es jedoch Konsul Gaius Duilius mit seiner bereits angeschlagenen Flotte bei Mylai einen unerwarteten Sieg über ein zahlenmäßig überlegenes karthagisches Geschwader zu erringen. Polybios schreibt, dass die Römer ihre Schiffe nach einem erbeuteten karthagischen Fünfruderer nachgebaut hätten; entscheidend für den Sieg sei jedoch eine Vorrichtung am Bug der römischen Schiffe gewesen – eine genuin römische Innovation namens „Corvus“ („Rabe“), eine Enterbrücke mit einem Dorn an der Spitze. Diese bohrte sich beim Herablassen der Brücke in die Planken des gegnerischen Schiffes und ermöglichte den Soldaten das trockene Entern des feindlichen Schiffs.
So jedenfalls will Polybios uns glauben machen. Doch was wäre, wenn alles ganz anders gewesen wäre? Möglicherweise ist der „Corvus“ ebenso ein Produkt historiographischer Fantasie wie Archimedes’ zugeschriebene Spiegelwaffe. Polybios hat große Anstrengungen unternommen, um aus den Römern blutige Anfänger im Seekrieg zu machen – offensichtlich mit einer Absicht: Als Neulinge auf dem Meer traut man ihnen nicht zu, dass sie es gewagt haben sollen, einen Konflikt um die kleine Stadt Messana in einen großen Krieg um Sizilien verwandeln zu lassen. Nichts würde das römische Zögern gegenüber allem Maritimen besser belegen als eine Apparatur, die den Seekrieg in einen Landkrieg umfunktionierte. Sollte es ihn jemals gegeben haben, verschwand der „Corvus“ jedenfalls schnell wieder aus den Geschichtsbüchern.
Auch andere nicht minder beeindruckende Waffen lehrten das Imperium seine Feinde das Fürchten. Zwar war die Artillerie aus Katapulten und Torsionsgeschützen – wie sie auch die Syrakusaner im Belagerungskampf eingesetzt hatten – keine römische Erfindung, dennoch perfektionierten sie die Mechanik dieser Waffen erheblich. Torsionsgeschütze, von den Römern „Onager“ und später „Scorpiones“ genannt, waren mechanische Waffen, deren Kraft durch das Verdrehen eines Seilbündels aus Rosshaar erzeugt wurde. Beim Abdrücken des Abzugs wurde die gespeicherte Energie abrupt freigesetzt: Sie übertrug sich über Sehnen und Spannrahmen auf einen Schieber, der das Geschoss – einen Bolzen oder Pfeil – nach vorne schleuderte. Die Ballista funktionierte nach dem Prinzip einer Armbrust und schleuderte vor allem Steine und Bleikugeln sowie seltener Pfeile auf einer ballistischen Bahn in Richtung des Feindes.