“Immer wieder taucht in den Debatten zwischen Ost und West das Wort vom Kolonialismus auf”

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Dekolonialisierung – Im weitesten Sinne ist dieses Wort mit Afrika sowie teilweise Asien und Südamerika verbunden. Doch wie manifestiert es sich in Europa? Tatsächlich rückt dieser Begriff auch innerhalb Europas zunehmend in den Fokus.

“Immer wieder taucht in den Debatten zwischen Ost und West das Wort vom Kolonialismus auf”

>>Zeit<<

“Immer wieder taucht in den Debatten zwischen Ost und West das Wort vom Kolonialismus auf. Ist das wirklich so unangemessen? Es gibt im Zusammenhang mit der deutschen Einheit wohl kaum eine Frage, die so stark polarisiert, wie jene, ob die Wiedervereinigung im Kern ein kolonialer Akt gewesen sei.”

“Ob die Wiedervereinigung im Kern ein kolonialer Akt gewesen sei”

Inwieweit es ein kolonialer Akt war, diese Frage kann hier mal offen bleiben. Trotzdem wird die Debatte nicht beendet, sondern intensiviert sich mit zunehmendem Abstand zur Wiedervereinigung. Es wird deutlich, dass wirtschaftlicher Niedergang, Krisen, Konflikte und Grenzverschiebungen miteinander verknüpft sind, was besonders am Beispiel Afrikas gut zu erkennen ist.

“Allein 1960 nahm die UNO sechzehn neue Mitglieder aus Afrika auf”

>>Tito: Der ewige Partisan von Marie-Janine Calic (Buch) <<

“1961 scheiterten die amerikanische Invasion in der kubanischen Schweinebucht und der Sturz Fidel Castros. Im folgenden Jahr entwickelte sich daraus eine internationale Krise, die an den Rand eines Atomkriegs führte. 1961 baute zudem die DDR-Führung die Berliner Mauer, um die Teilung Europas buchstäblich zu zementieren. Andererseits entstanden als Ergebnis der Dekolonialisierung so viele neue Staaten wie nie zuvor. Allein 1960 nahm die UNO sechzehn neue Mitglieder aus Afrika auf. Der globale Süden erhielt in der Weltorganisation immer größeres Gewicht. Vor diesem Hintergrund verabredete Tito im April 1961 mit seinem Freund Nasser eine Gipfelkonferenz der nichtpaktgebundenen Staaten – ein Vorhaben, dem sich auch Nehru anschloss. Ziel war es, die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen zu unterstützen, die Macht der Blockfreien in der UN-Generalversammlung zu stärken und die Atommächte auf Abrüstungsverhandlungen zu verpflichten.”

“Ziel war es, die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen zu unterstützen”

Die Entkolonialisierung Afrikas hängt stark mit dem wirtschaftlichen Verfall der führenden Kolonialmächte zusammen. Obwohl England und Frankreich als Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, spiegelte sich ihre wirtschaftliche Lage in einem ganz anderen Licht wider. Der dezentrierte Blick auf Afrika in dieser Frage ist kaum hilfreich. Hierbei wird beispielsweise gerne die einstige europäische Kolonie Irland vergessen.

“indentured servants” – “Engländer hätten eben auch weiße Iren versklavt”

>>Verknüpfte Welten von Ludger Kühnhardt (Buch) <<

“Im Hotel treffe ich ein irisches Paar, das auf Saba lebt. Der weiße Mann stellt sich als Nachkomme von Sklaven vor. Jawohl, denn die Engländer hätten eben auch weiße Iren versklavt. In der Wissenschaft spricht man von „indentured servants“, Leibeigenen auf Zeit, die sich für die harte Arbeit in den Plantagen der Karibik verpflichten mussten.”

“In der Wissenschaft spricht man von „indentured servants“, Leibeigenen auf Zeit”

Erst Anfang des 20. Jahrhundert konnte sich Irland aus der englischen Herrschaft befreien. Nichtsdestoweniger gibt es noch weitere europäische Regionen, welche mit kolonial-ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

Nordirlandkonflikt an der Front in der Geschichtsschreibung: An der Front zwischen Kelten und Angelsachsen

>>Die Kelten von Bernhard Maier (Buch) <<

„Sprache, Literatur und Kultur der Kelten sind bis in unsere Tage in der Bretagne, in Schottland, Wales und Irland lebendig geblieben. Lebendig geblieben sind aber auch die Folgen der Eroberungs- und Machtpolitik Englands seit dem Mittelalter in den keltisch besiedelten Regionen der Britischen Inseln. Wirtschaftliche, soziale, kulturelle und religiöse Spannungen in diesen Gebieten legen bis heute davon beredtes Zeugnis ab.“

„Kulturelle und religiöse Spannungen in diesen Gebieten legen bis heute davon beredtes Zeugnis ab

Hier sind nicht einmal alle Regionen Europas erwähnt. Auch die Korsen, Basken, Katalanen, Okzitanier und viele weitere Gebiete könnten genannt werden. Das Betätigungsfeld des Kolonialismus ist also nicht nur auf Europa beschränkt, sondern könnte problemlos tausend Jahre – oder noch weiter – in die Vergangenheit zurückverlegt werden. Ebenso ist das heutige vermittelte Geschichtsbild hiervon betroffen.

„Forschungsgeschichtlich bedingten Problem sind es ideologische Sichtweisen“

>>Archäologie in Deutschland (Heft) <<

„Die Kriegszüge Heinrichs I. spielten dabei eine besondere Rolle, schreibt man diesem König doch die Eroberung der heutigen Oberlausitz in den Jahren 928/ 929 bzw. 932 zu. Immer noch ist in diesem Zusammenhang von der Errichtung der deutschen Herrschaft die Rede, wohl verkennend, dass etablierte politische Strukturen in diesen Jahrhunderten nicht einmal ansatzweise erkennbar waren. Damit berühren wir eines von zwei gravierenden Problemfeldern, die mit der Betrachtung des slawischen Mittelalters der Oberlausitz verbunden sind. Neben einem forschungsgeschichtlich bedingten Problem sind es ideologische Sichtweisen, welche die slawische Landnahme, den Landesausbau und die kriegerischen Auseinandersetzungen des 10. und 11. Jh. manchmal bis zur Unkenntlichkeit überprägt bzw. einseitig verzerrt haben. Hier ist auf den Versuch der »Germanisierung« Ostmitteleuropas zu verweisen, der nach 1918 mit Begriffen wie »Grenzkampf« die sorbische Oberlausitz erfasste und sich auch archäologisch-historischer Argumente bediente.“

„Kriegszüge Heinrichs I.“ – Warum blutige Eroberungskriegszüge als gute Sache bei vielen Historikern in Erscheinung treten?

Solche Darstellungen oder ähnliche werden heutzutage immer noch häufig verbreitet. Die kulturellen Errungenschaften der “Besiegten” werden entweder komplett ignoriert oder bagatellisiert. Selbst wenn die historischen Fakten eine völlig andere Realität zeigen.

„Imposantesten Burgwallanlagen – Deren Entstehung auf etwa 1200 v. Z. datiert wird“ 

>>Die Lausitzer von Günter Wermusch (Buch) <<

„Auf dem Gebiet der Lausitzer Kultur sind bislang etwa 150 befestigte Siedlungen, davon 30 in der Mark Brandenburg, bekannt. Auf die Reste einer der imposantesten Burgwallanlagen, deren Entstehung auf etwa 1200 v. Z. datiert wird, trifft man in der Nähe von Sacrow bei Potsdam. 19 Meter über dem Ufer des Lehnitzsees gelegen, erstreckte sie sich über eine Fläche von zwei Hektar, war von einem sechs Meter hohen Ringwall in Holz-Erde-Konstruktion umgeben und beherbergte schätzungsweise 1000 Menschen. Die im Volksmund „Römerschanze“ genannte Anlage wurde von den Slawen bis Anfang des 13. Jahrhunderts n. Z. genutzt. Das ursprüngliche Gebiet der Lausitzer Kultur war von sesshaften Bauern besiedelt. Die lernten sehr bald, durch gemeinschaftliche Unternehmungen Wasserläufe zu regulieren, Kanäle zu graben und Neuland urbar zu machen, das entweder zu trocken oder zu feucht war. Sie legten Dämme an, um Wasser zu speichern und damit das Land in sommerlichen Trockenzeiten zu bewässern.“

„Das ursprüngliche Gebiet der Lausitzer Kultur war von sesshaften Bauern besiedelt“

Urbane Siedlungen, Landwirtschaft und sogar regulierte Wasserläufe wollen nicht so recht ins heutige Bild eines kulturlosen Barbarenvolkes passen. Eine Perspektive, welche sich bis in die Gegenwart hält.

“Warum werden wir in der Berichterstattung immer wieder als Trachten tragendes, Eier malendes Volk dargestellt?”

>>Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (PDF-Datei) <<

“Häufig schloss sich hier die Frage an, wie viele Sorben es überhaupt noch gäbe und ob sich eine sorbische Kultur nicht auf die Ausübung von Folklore beschränke. „Das sieht man doch im Fernsehen“, wurde dabei oft begründet. … Die Gesprächspartner merkten oft an, dass Berichterstattungen häufig mit einer Reduzierung ihrer Kultur auf wenige, auffällige Elemente einherginge, dass sie sich nicht hinreichend präsentiert sähen und eine kultur- wissenschaftlich vorgehende Untersuchung von Fernsehsendungen zum Sorbischen aus diesem Grund längst überfällig sei. „Warum werden wir in der Berichterstattung immer wieder als Trachten tragendes, Eier malendes Volk dargestellt?“, wurde dabei oft von sorbischer Seite gefragt.”

“Berichterstattungen häufig mit einer Reduzierung ihrer Kultur auf wenige, auffällige Elemente einherginge”

Fragen rund um die Dekolonialisierung können also viel weiter reichen. Tatsächlich wäre ein Perspektivenwechsel längst überfällig und auch verfestigte Klischees sollten mal hinterfragt werden.